Der Karrierek(n)ick im Knast

presse • 27. Oktober 2025

 

Knastjobs oder Karrierek(n)ick?


Warum der österreichische Strafvollzug seine Insassen auf die Arbeitswelt von gestern vorbereitet

Sie nähen Uniformen, montieren Kabelbäume oder werken in der Tischlerei – für einen Stundenlohn, von dem draußen niemand leben kann. Die Arbeit im Gefängnis soll auf die Freiheit vorbereiten. Doch in Zeiten des Fachkräftemangels und der digitalen Transformation wirkt der österreichische Strafvollzug wie ein Museum der Arbeitswelt. Ein System zwischen guter Absicht und verpassten Chancen.

Einleitung: Ein Tagwerk für die Tonne?

Stellen Sie sich vor, Sie verbringen Jahre damit, einen Beruf auszuüben, der in der realen Welt so nicht mehr existiert. Sie bekommen dafür ein Taschengeld, das nicht mal für die Kaution einer Wohnung reicht. Und dann werden Sie entlassen – mit dem Auftrag, sich sofort in einer digitalisierten, komplexen Arbeitswelt zurechtzufinden, die Ihnen ferngeblieben ist. Dies ist die paradoxe Realität für viele Gefangene im österreichischen Strafvollzug.

Arbeit ist das zentrale Element des Vollzugsalltags. Sie strukturiert den Tag, soll Sinn stiften und vor allem eines: resozialisieren. § 20 des Strafvollzugsgesetzes (StVG) gibt den Auftrag: "Der Gefangene soll befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen." Die Arbeit steht hier an erster Stelle der genannten Maßnahmen. Doch was, wenn die Werkzeuge, mit denen dieser Auftrag erfüllt werden soll, stumpf geworden sind? Wenn die Arbeit von gestern nicht die Probleme von morgen lösen kann?

Dieser Artikel beleuchtet die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Arbeitsintegration im österreichischen Strafvollzug. Er fragt, warum ein System, das Menschen verändern will, selbst so resistent gegen Veränderung ist, und zeigt auf, was sich ändern müsste – nicht nur im Justizsystem, sondern auch in den Köpfen der Wirtschaft.


Kapitel 1: Der Auftrag und die Realität – Eine Bestandsaufnahme

1.1 Das gesetzliche Ideal: Arbeit als Resozialisungsmotor

Das österreichische Strafvollzugsgesetz ist modern und progressiv. Es stellt nicht die Bestrafung, sondern die Resozialisation in den Mittelpunkt. Die Arbeit soll dem Gefangenen laut Gesetz "fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten" vermitteln. Sie dient dem Erwerb von Schlüsselqualifikationen: Pünktlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Teamfähigkeit. Theoretisch ist also alles vorgesehen, um einen Menschen fit für den ersten Arbeitsmarkt zu machen.

1.2 Die gelebte Praxis: Verwaltung statt Innovation

Die Realität in vielen österreichischen Justizanstalten sieht anders aus. Die Arbeitsbetriebe sind oft weniger Ausbildungsstätten, sondern vielmehr kostengünstige Produktionsstätten, die den innerbetrieblichen Bedarf der Justizanstalten decken.

  • Uniformen nähen für die Justizwache
  • Betten bauen für neue Insassen
  • Möbel reparieren oder Elektrokabel konfektionieren

Die Arbeit ist notwendig und erhält die Anstalt am Laufen. Doch ihr Bildungswert für den externen Arbeitsmarkt ist begrenzt. Es handelt sich oft um simple, repetitive Tätigkeiten, die in der freien Wirtschaft zunehmend automatisiert werden. Die vielbeschworenen "fachlichen Kenntnisse" sind oft nicht mehr als Grundlagen, die keinen wirklichen Wettbewerbsvorteil auf dem Arbeitsmarkt verschaffen.


Kapitel 2: Die große Hürde: Der symbolische Lohn – Ein System der Abwertung

2.1 Die Zahlen: € 2 pro Tag – Ein ökonomisches und ethisches Armutszeugnis

Die Realität ist erschütternd: Ein durchschnittlicher Tageslohn von ca. € 2 ist nicht symbolisch, er ist demütigend. Bei einer 40-Stunden-Woche entspricht das einem Stundenlohn von lediglich 25 Cent. Diese Praxis entlarvt den Anspruch der Resozialisierung als hohle Phrase.

Rechnung: Ein Insasse, der einen Monat lang voll arbeitet, könnte sich am Ende vielleicht ein paar Dutzend Euro an Ersparnissen zurücklegen. Diese sind binnen weniger Tage nach der Entlassung für die grundlegendsten Bedürfnisse aufgebraucht. Von einer Kaution für eine Wohnung oder der Anschaffung eines Handys für die Jobsuche kann keine Rede sein.

2.2 Die verheerenden Folgen: Von der finanziellen zur sozialen Exklusion

Ein Justizwachebeamter, der anonym bleiben möchte, kommentiert die Situation so:

Zitat Justizwachebeamter aus der JA Karlau „ Wir wissen, dass das System nicht funktioniert. Wie soll ich einem Mann, der hier 40 Stunden die Woche arbeitet, erklären, dass das Ergebnis seiner Arbeit nur zwei Euro am Tag wert ist? Das untergräbt jede Autorität und jede pädagogische Bemühung. Die Insassen sehen das als das, was es ist: Ausbeutung."

Die Folgen sind fatal:

Zementierung von Perspektivlosigkeit: Die Botschaft ist klar: "Deine Arbeit ist nichts wert." Dies zerstört das ohnehin angeschlagene Selbstwertgefühl und jeden Anreiz, sich über die Arbeit zu reintegrieren.

Erzwungene Rückfallbereitschaft: Wer mit leeren Taschen entlassen wird, steht unter immensem Druck, sofort Geld zu beschaffen – notfalls auf dem alten, kriminellen Weg. Die finanziellen Startbedingungen sind eine direkte Wegbereitung für Rückfälligkeit.


Kapitel 3: Der digitale Abgrund – Die Vorbereitung auf eine vergangene Welt

Die digitale Kluft zwischen Gefängnis und Gesellschaft ist eine der größten Barrieren für eine gelungene Wiedereingliederung. Während Österreich über den 5G-Ausbau diskutiert, herrscht in den Anstalten ein technologischer Ausnahmezustand aus dem letzten Jahrhundert.

Ein ehemaliger Inhaftierter, der heute in der Gastronomie arbeitet, schildert:

Als ich rauskam, war alles online: Jobsuche, Bewerbungen, Bankgeschäfte, selbst die Fahrplanauskunft. Im Knast hatte ich jahrelang nicht mal eine Tastatur in der Hand gehabt. Ich fühlte mich wie ein Analphabet. Die Welt hatte sich weiterentwickelt, und ich war stehengeblieben. Dieser Schock war fast schlimmer als die Haft an sich. "

Die Konsequenzen dieses Abgrunds sind systemisch:

Nicht vermittelbare Skills: Eine Ausbildung zum Lageristen ohne Kenntnis eines digitalen Warenwirtschaftssystems ist wertlos. Eine Ausbildung zum Buchbinder ohne Grundverständnis für digitale Druckvorstufe ist ein Anachronismus.

Verstärkte soziale Isolation: Der fehlende Zugang zu digitaler Kommunikation erschwert den Kontakt zur Außenwelt, zu potenziellen Arbeitgebern und zu unterstützenden Netzwerken massiv.

Das Sicherheitsparadoxon: Die pauschale Angst vor Missbrauch des Internets führt zu einem Totalverbot. Doch genau dieses Verbot produziert entlassene Menschen, die mit der modernen Welt nicht umgehen können – ein viel größeres Sicherheitsrisiko auf lange Sicht.

Kapitel 4: Die Sackgasse nach der Entlassung – Wo die "Resozialisierten" landen

Trotz aller Bemühungen im Vollzug und durch Bewährungshilfeorganisationen wie NEUSTART zeigt die Ernüchterung sich spätestens am Arbeitsmarkt. Die Rückfallquoten sprechen eine deutliche Sprache: Sie bewegen sich zwischen 30% und bis zu 80%, je nach Deliktgruppe. Diese Zahlen sind eine klare Absage an die Wirksamkeit des aktuellen Systems.

Ein Sozialarbeiter von NEUSTART bestätigt das Bild:

Unsere Klienten kämpfen mit vielen Vorurteilen. Aber das größte praktische Problem ist oft die fehlende relevante Berufserfahrung und die digitale Kompetenz. Wir können sie vermitteln, aber oft nur in Branchen mit akutem Personalmangel, wo die Hürden niedrig sind und die Löhne ebenso. Das sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, die kaum ein gesichertes Leben ermöglichen und damit instabil sind. "

Die Realität am ersten Arbeitsmarkt sieht so aus:

Die Branchen: Ehemalige Inhaftierte landen überproportional häufig in der Zeitarbeit, im Baugewerbe, in der Gastronomie oder in Reinigungsfirmen. Dies sind Sektoren, die durch hohe Fluktuation, physische Belastung und oft niedrige Löhne gekennzeichnet sind.

Das Prekariat als Default: Statt eines Neuanfangs führt der Weg oft direkt in die wirtschaftliche Prekarität. Ein unsicherer Job, kaum Aufstiegschancen und die ständige Sorge um den Lebensunterhalt schaffen ein Milieu, das Rückfälle begünstigt.

Die gläserne Decke: Der Gefängnisaufenthalt wirkt wie ein Makel, der den Zugang zu Ausbildungsberufen, qualifizierten Tätigkeiten oder gar Karrierewegen nahezu unmöglich macht. Der soziale Aufstieg wird systematisch verwehrt.

Kapitel 5: Das Systemische Versagen – Warum sich nichts bewegt

Die Probleme sind seit Jahren bekannt. Warum bleibt jede Reform halbherzig oder scheitert? Die Ursachen sind vielschichtig und tief in der Struktur verankert.

  1. Gefängnis als Profitcenter: Die innerbetrieblichen Arbeitsleistungen der Gefangenen sind ein kostengünstiger Treibstoff für den Justizapparat. Eine faire Entlohnung würde dieses System sofort unwirtschaftlich machen und den wahren Preis der Verwahrung offenlegen. Es gibt eine stille ökonomische Abhängigkeit von der Ausbeutung.
  2. Der Sicherheits-Fetisch: Jede Innovation, sei es ein kontrollierter Internetzugang oder Kooperationen mit externen Firmen, wird primär durch die Sicherheitsbrille betrachtet. Das Minimieren von Risiken hat Priorität vor dem Maximieren von Chancen. Dies lähmt jeden progressiven Ansatz im Keim.
  3. Personalmangel und Überlastung: Die Justizwache ist unterbesetzt und überlastet. Für eine innovative, pädagogisch wertvolle Betreuung in den Werkstätten fehlt schlicht die Zeit und oft auch die spezifische Ausbildung. Der Fokus liegt auf Aufsicht und Kontrolle, nicht auf Ausbildung. Der Job eines Justizwachebeamten ist äußerst unattraktiv.
  4. Gesellschaftliches Desinteresse : "Aus den Augen, aus dem Sinn." Die Probleme hinter den Gefängnismauern sind für die breite Öffentlichkeit unsichtbar. Es fehlt der politische und gesellschaftliche Druck, in eine effektive Resozialisierung zu investieren, deren Nutzen – weniger Opfer, geringere Kosten für erneute Inhaftierungen – erst langfristig sichtbar wird.


Kapitel 6: Wege aus der Krise – Keine einfachen Lösungen, aber notwendige Schritte

Eine grundlegende Reform ist keine Kuscheljustiz, sondern harte ökonomische und sicherheitspolitische Vernunft. Jeder Euro, der in echte Resozialisierung investiert wird, spart ein Vielfaches an Kosten für Wiederinhaftierung und neue Strafverfahren. Hier sind konkrete Forderungen:

1. Revolution der Entlohnung:

Forderung: Einführung eines stufenweisen Lohnmodells, das sich am kollektivvertraglichen Mindestlohn orientiert. Ein Teil des Lohns wird als verbindliche Rücklage für die Entlassung einbehalten, um ein finanzielles Polster zu schaffen. Das passiert zwar in den Grundzügen theoretisch auch heute schon, nur bleiben am Ende nur etwa € 100 pro Monat für den Insassen übrig.

2.  Brücken in die digitale Welt schlagen:

Forderung: Einführung von offline-fähigen Lernplattformen und simulierten Internetzugängen in geschlossenen Systemen. In einem nächsten Schritt müssen kontrollierte und überwachte Internetarbeitsplätze für Bewerbungen, Online-Banking und digitale Fortbildung geschaffen werden.

3. Partnerschaften mit der Wirtschaft forcieren:

Forderung: Der Staat muss steuerliche Anreize für Unternehmen schaffen, die bereit sind, Gefangene in speziellen Programmen auszubilden oder sogar Werkstätten innerhalb der Anstalten zu betreiben, die marktrelevante Skills vermitteln.

4. Den gesetzlichen Auftrag ernst nehmen:

Forderung: Das Resozialisierungsgebot des § 20 StVG muss einklagbar werden. Die Anstalten sollten jährlich transparent über ihre Erfolgsquoten bei der Arbeitsintegration berichten müssen.

Fazit: Mehr als ein Knastjob – Eine Investition in die Sicherheit aller

Ein System, das Menschen für € 2 am Tag arbeiten lässt und sie dann ohne digitale Kompetenzen und mit leeren Taschen in eine komplexe Welt entlässt, hat seinen eigenen Auftrag verraten. Es produziert nicht mündige Bürger, sondern frustrierte, perspektivlose Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder straffällig werden.

Die Arbeitsintegration im Strafvollzug ist keine Wohltätigkeit. Sie ist die entscheidende Stellschraube für öffentliche Sicherheit. Jeder Mensch, der nach seiner Haft einen gut bezahlten, sinnstiftenden Job findet, wird mit großer Wahrscheinlichkeit kein weiteres Opfer verursachen. Die Frage ist also nicht, ob wir uns eine Reform leisten können, sondern ob wir uns den teuren und gefährlichen Status quo weiter leisten wollen. Es ist Zeit, den österreichischen Strafvollzug aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und ihn fit für das 21. Jahrhundert zu machen.

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