Zwischen Krieg und Haft

presse • 12. November 2025

Zwischen Krieg und Haft


Wenn geopolitische Konflikte in Österreichs Zellen weiterleben

Wie der Strafvollzug mit inhaftierten Personen unterschiedlicher Herkunft umgeht — und was das für Menschenrechte, Resozialisierung und gesellschaftliche Sicherheit bedeutet.

Kurzfassung: In Österreich ist ein erheblicher Anteil der Gefangenen nicht-österreichischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Das wirft Fragen auf, die über bloße Statistikdebatten hinausgehen: Haben Menschen aus Krisenregionen ausreichenden Zugang zu Rechtshilfe, Sprache, medizinischer und psychologischer Betreuung? Wie wirken sich Herkunft, Aufenthaltsstatus und internationale Konflikte (beispielsweise zwischen Menschen aus der Ukraine, Russland, Israel oder Palästina) auf Haftbedingungen, Sicherheitsmanagement und Resozialisierungschancen aus? Dieser Artikel beleuchtet strukturelle Herausforderungen, dokumentierte Defizite und praktikable Reformschritte — mit Fokus auf Menschenrechte und wirksame Resozialisierung.

(Wichtige Quellenbasis: aktuelle Bestandszahlen des österreichischen Justizministeriums, Berichte des Council of Europe / CPT, Studien der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) sowie nationale Analysen zur Resozialisierung und Gesundheitsversorgung im Strafvollzug.) ( Justiz Österreich )

1. Ausgangslage: Herkunft als Faktor — nicht nur eine Zahl

Am 1. November 2025 lagen 10.082 Personen in österreichischen Justizanstalten; davon waren 4.785 österreichische Staatsbürger:innen (47,46 %), 1.940 EU-Bürger:innen (ohne Österreich; 19,24 %) und 3.240 Nicht-EU-Bürger:innen (32,14 %). Diese Zahlen zeigen deutlich: ein erheblicher Anteil der Gefangenen hat eine fremde Staatsbürgerschaft — das ist nicht per se problematisch, aber es macht Herkunft zu einem relevanten Faktor für Versorgung, Rechtsschutz und Resozialisierung. ( Justiz Österreich )

Dass Herkunft einen Unterschied macht, ist kein Spekulatius: Sprache, Aufenthaltsstatus, kulturelle Unterschiede, unterschiedliche rechtliche Situationen (z. B. Abschiebungsrisiken, fehlende Sozialkontakte im Herkunftsland) und politische Spannungen zwischen Herkunftsstaaten prägen Haftalltag und Nachbetreuung — und damit auch die Rückfallwahrscheinlichkeit.

2. Konkrete Problempunkte im Strafvollzug mit Relevanz für Gefangene aus Krisen- oder Konfliktregionen

2.1. Sprachbarrieren und Zugang zu Informationen

Das Recht, Verfahren zu verstehen und effektiven Rechtsbeistand zu erhalten, ist grundlegend. Die FRA-Studie zu Haftbedingungen in EU-Staaten stellt fest, dass Übersetzungs- und Dolmetschleistungen inhaftierten Personen, die kein Deutsch sprechen, berücksichtigt werden sollen — in der Praxis aber Lücken bestehen. Fehlende oder verzögerte Übersetzung kann Entscheidungen über Haftentlassungen, Bewährungsfragen oder medizinische Versorgung verzögern und isolieren. ( fra.europa.eu )

2.2. Psychische Belastungen durch geopolitische Spannungen

Menschen aus Kriegs- oder Konfliktregionen (beispielsweise ukrainische Geflüchtete mit traumatischen Erlebnissen oder Gefangene aus Staaten mit anhaltenden Konflikten) bringen oft hohe psychische Belastung mit. Gleichzeitig fehlen in vielen Einrichtungen ausreichend spezialisierte Traumatherapeuten; Berichte zeigen Defizite in der psychologischen Versorgung in österreichischen Einrichtungen. Das ist nicht nur humanitär bedenklich — es unterminiert auch Rehabilitationschancen und kann Sicherheitsrisiken erhöhen. ( LBI für Grund- und Menschenrechte )

2.3. Soziale Isolation und fehlende Netzwerke

Für Inhaftierte ohne gesicherten Aufenthaltsstatus oder mit Familien im Ausland ist die Verbindung zur Außenwelt oft schwächer. Besuchsrechte, Postverkehr oder Zugriff auf Unterstützungsnetzwerke sind erschwert — das verschlechtert die Reintegration nach Entlassung und kann Recidivism-Raten ansteigen lassen.

2.4. Sicherheitsmanagement: Konfliktlinien innerhalb der Anstalten

Politische Konflikte, die Menschen in ihren Herkunftsländern entzweien (z. B. zwischen Anhänger:innen unterschiedlicher Seiten in einem bewaffneten Konflikt), können Spannungen in Haftanstalten verstärken. Das erfordert differenzierte Trennungs- und Mediationsstrategien — bloße Isolationsmaßnahmen sind keine Lösung und können Menschenrechte verletzen.

2.5. Abschiebung vs. Resozialisierung

Gefangene ohne gesicherten Aufenthaltsstatus stehen vor dem Risiko, nach Verbüßung der Strafe abgeschoben zu werden. Das stellt die Frage: Investieren wir in Resozialisierung, wenn die betroffene Person womöglich nicht im Land bleiben darf? Praktisch führt dies häufig zu weniger Haftausgängen, weniger Fördermaßnahmen und damit schlechteren Rückfallpräventionen — was langfristig gesellschaftliche Kosten erhöht.

3. Was die offiziellen Prüfstellen und Studien bemängeln

Die CPT-Berichte und nationale Evaluierungen heben wiederholt hervor, dass Österreich in vielen Justizanstalten zwar ordentliche materielle Bedingungen bietet, aber systemische Mängel bei Programmen, Sprachangeboten, medizinischer und psychologischer Versorgung sowie Aktivitätsangeboten bestehen. Die CPT empfiehlt stärkere Programme für sinnvolle Tagesstruktur, bessere sprachliche Betreuung und mehr Ressourcen für psychosoziale Betreuung. Parallel weist die FRA auf Lücken in Kommunikation und Informationszugang für nicht-deutschsprachige Inhaftierte hin. ( Portal )

Zudem zeigen nationale Analysen, dass die Verfügbarkeit fachärztlicher und psychotherapeutischer Angebote in manchen Einrichtungen begrenzt ist — eine Schwäche, die sich besonders für Menschen aus Krisenregionen fatal auswirken kann. ( LBI für Grund- und Menschenrechte )

4. Warum das Ganze nicht nur „ein Gefängnisproblem“ ist

Strafvollzug endet nicht an der Gefängnismauer. Er ist Teil eines größeren Systems: Sozialpolitik, Integrationspolitik, Asyl- und Aufenthaltsrecht, Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik beeinflussen, ob Inhaftierte nach der Haft eine Perspektive haben oder erneut straffällig werden. Wenn Herkunft und Aufenthaltsstatus einschränken, wie viel Zugang zu Bildung, Arbeit oder Betreuung jemand in Haft bekommt, dann zahlt die Gesellschaft den Preis hinterher — in Form von höheren Rückfallraten, sozialen Kosten und humanitärem Versagen.

5. Konkrete, praktikable Handlungsfelder (Policy- und Praxisvorschläge)

Die folgenden Maßnahmen sind keine Utopie, sondern bewährte oder pragmatische Schritte, die in vergleichbaren Systemen bereits Wirkung zeigen oder leicht implementierbar sind.

5.1. Systematische Sprach- und Dolmetschangebote

  • Aufbau eines nationalen Pools zertifizierter Dolmetscher:innen für Justizkontexte (telefonisch/fernbasiert verfügbar rund um die Uhr).

  • Standardisierte Übersetzungsunterlagen zu Rechten, Haftbedingungen und Antragstellungsprozessen in den häufigsten Sprachen. Nutzen: Vermeidet Fehlentscheidungen, beschleunigt Verfahren und mindert Isolation. (Unterstützung durch FRA-Empfehlungen). ( fra.europa.eu )

5.2. Traumafokussierte psychologische Versorgung

  • Verpflichtende Screening-Instrumente bei Aufnahme (kurzscreening für Trauma, Suizidalität).

  • Ausbau von psychotherapeutischen Kapazitäten in Anstalten (Koop mit Gesundheitseinrichtungen). Nutzen: Höhere Chance auf Therapieerfolge, geringere Gewaltrisiken, bessere Resozialisierung. (Entspricht Empfehlungen aus nationalen Gutachten). ( LBI für Grund- und Menschenrechte )

5.3. Differenziertes Sicherheits- und Mediationsmanagement

  • Einrichtung von Mediationsinstanzen und kultursensiblen Fallteams bei interkulturellen Konflikten.

  • Klare Trennungs- und Schutzkonzepte — nicht als Dauerlösung, sondern als kurzfristige Maßnahme zur Deeskalation. Nutzen: Reduziert eskalative Vorfälle und schützt Menschenrechte.

5.4. Perspektivenorientierte Haftplanung unabhängig vom Aufenthaltsstatus

  • Auch für Inhaftierte mit Abschiebungsrisiko soll ein Mindestangebot an Bildung, Arbeitsmaßnahmen und Sozialarbeit gelten.

  • Prüfung von Rückführungs-/Abschiebe-Alternativen in Kooperation mit Sozialdiensten: Ziel muss Rückfallvermeidung sein, nicht rein punitive Maßnahmen. Nutzen: Langfristig spart das Kosten und erhöht die öffentliche Sicherheit.

5.5. Datenerhebung und Transparenz

  • Bessere, anonymisierte Ausweisungen nach Staatsangehörigkeit und Sprachbedarfen (rein zur Planung von Ressourcen).

  • Regelmäßige, unabhängige Evaluierungen der Resozialisierungsprogramme mit Fokus auf ausländische Gefangene. Nutzen: Evidenzbasiertes Planen statt Politik auf Basis von Anekdoten.

6. Mögliche Widerstände — und wie man ihnen begegnet

Es ist realistisch: Einige politische Akteure werden argumentieren, „Zuerst die Österreicher“ — also weniger Investitionen für Ausländer. Aber drei Gegenargumente sind stark und pragmatisch:

  1. Effizienzargument: Präventive Investitionen (Sprache, Therapie, Arbeit) reduzieren langfristig Rückfälligkeit und damit Kosten des Strafvollzugs.

  2. Rechtsstaatliches Argument: Grundrechte gelten unabhängig von Staatsangehörigkeit; Abstriche bei Rechtsschutz oder Behandlung sind juristisch und moralisch problematisch.

  3. Sicherheitsargument: Unzureichende Versorgung erhöht Risiken im Vollzug (Gewalt, Radikalisierung) — das trifft alle Insassen und das Personal.

Strategisch ist es sinnvoll, Reformen als Sicherheits- und Kostenoptimierung zu präsentieren, nicht nur als humanitäre Maßnahmen.

7. Konkrete Schritte für Stakeholder (Kurz-Roadmap)

Ministerium für Justiz & Gesundheit

  • Kurzfristig (6–12 Monate): Nationaler Dolmetscherpool; Aufnahme-Screening für psychische Gesundheit; verpflichtende Informationsblätter in mehreren Sprachen. ( fra.europa.eu )

  • Mittelfristig (12–36 Monate): Ausbau psychotherapeutischer Kapazitäten; Evaluation pilotierter Resozialisierungsprogramme.

Justizanstalten & Anstaltsleitungen

  • Einführung kultursensibler Fallteams; Kooperationen mit NGOs und Migrantenselbstorganisationen; Angebote für Telefonnummern/Onlinekontakt mit Beratungsstellen.

Parlament & Verwaltung

  • Datenerhebung zur Bedarfslage (anonymisiert); Finanzierungslinien für präventive Programme; gesetzliche Klarstellung zur Pflicht der sprachlichen Unterstützung in allen verfahrensrelevanten Fragen. ( Justiz Österreich )

Zivilgesellschaft & NGOs

  • Aufbau von Unterstützungsnetzwerken für entlassene Personen mit Migrationshintergrund; Advocacy für humane Bedingungen und Monitoring.

8. Ein paar unbequeme Wahrheiten

  • Zahlen über Herkunft allein lösen nichts: Ohne Kontext dienen sie meist als politisches Instrument. (Das bedeutet: wer nur auf die Zahl „Anteil Ausländer“ starrt, übersieht Ursache-Wirkungszusammenhänge.)

  • Kurzfristige Politik ohne langfristige Finanzierung führt zu Symbolpolitik — etwa Kurse ohne Anschlussarbeitsplätze.

  • Menschenrechte sind nicht nur moralische Floskeln: Sie sind Praktiken, die Sicherheits- und Integrationsziele befördern.

9. Fazit: Verantwortung verbindet Sicherheit und Menschenwürde

Die Präsenz von Menschen aus der Ukraine, Russland, Israel, Palästina oder anderen Ländern in österreichischen Haftanstalten ist ein Faktum — aber kein Problem, das durch Abschottung oder Rhetorik gelöst wird. Vielmehr braucht es eine Mischung aus pragmatischen Maßnahmen: verlässliche sprachliche Angebote, angemessene psychische Gesundheitsversorgung, kultursensibles Sicherheitsmanagement und eine Perspektive für die Zeit nach der Haft — unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

Das ist nicht nur eine Frage von Moral — es ist ein Gebot rationaler Politik: Wer Rückfall verhindern will, muss heute investieren. Wer Menschenrechte aushöhlt, riskiert langfristig mehr Instabilität und Kosten.

Quellen (Auswahl)

  • Österreichisches Justizministerium — Insassinnen-/Insassenstand nach Staatsbürgerschaft (Stand: 1. November 2025). ( Justiz Österreich )

  • Council of Europe — CPT-Berichte zu Österreich (Periodische Besuche; Empfehlungen zu Haftbedingungen). ( Portal )

  • EU-Agentur für Grundrechte (FRA) — Criminal Detention in the EU: Conditions and Monitoring (Austria country study, 2024) — u. a. zu Übersetzungs-/Dolmetschpflichten und Informationszugang. ( fra.europa.eu )

  • Justice for All (National Report Austria) / European Prison Observatory — zu medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung in Justizanstalten. ( LBI für Grund- und Menschenrechte )

  • Justizanstalten-Statistik — Belegungsgrade und Verteilung (aktuelle Auswertungen zur Kapazität). ( Justiz Österreich )

 

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