Digitaler Papierkrieg bei unserer Justiz
Der digitale Papierkrieg bei unserer Justiz
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in Haft. Ihre Zukunft, Ihre Verfahren, Ihre Anträge auf Lockerung – alles hängt von Akten ab, die Sie nie zu Gesicht bekommen. Sie müssen schriftlich darum ansuchen, dass man Ihnen ein Dokument ausdruckt, das in einem Computer nur einen Klick entfernt ist. Sie leben in einer Welt, die draußen von Digitalisierung durchdrungen ist, doch für Sie gibt es weder Internet, noch E-Mails, noch die Möglichkeit, online eine Qualifikation zu erwerben.
Was wie ein Albtraum klingt, ist in Österreichs Justizanstalten traurige Realität. Während Länder wie Estland ihre Behörden und damit auch ihren Strafvollzug nahtlos in die digitale Welt des 21. Jahrhunderts integriert haben, steckt Österreich in einem Papierkrieg fest, der nicht nur ineffizient, sondern auch unmenschlich ist.
Als NGO, die täglich mit den Folgen dieses Systems konfrontiert ist, fordern wir einen radikalen Wandel. Es ist Zeit für einen digitalen Aufbruch im österreichischen Strafvollzug.
Estland: Der „Digitale Gefangene“ als Teil der E-Governance
Estland hat mit seiner „e-Estonia“-Strategie gezeigt, was möglich ist. Der gesamte Staat – von der Steuererklärung bis zur Wahl – läuft digital. Dieser Ansatz macht auch vor dem Strafvollzug nicht Halt. Die estnische „e-Prison“-Lösung ist kein isoliertes Projekt, sondern ein integrierter Bestandteil der nationalen digitalen Infrastruktur (X-Road).
Was das in der Praxis bedeutet:
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Vernetzte Justiz: Staatsanwaltschaft, Gericht und Gefängnis kommunizieren über eine sichere E-Akte. Anträge, Gutachten und Beschlüsse werden digital übermittelt – in Echtzeit, ohne Verzögerung durch Postwege.
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Transparenz für Verteidiger: Anwälte haben über einen gesicherten Zugang Einsicht in die Akten ihrer Mandanten und können Anträge elektronisch einbringen.
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Effizienz für das Personal: Die Justizbediensteten werden von administrativen Routinearbeiten entlastet und haben mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe: die Betreuung und Überwachung.
Das estnische System beweist: Digitalisierung im Strafvollzug ist keine technische Spielerei. Sie ist ein Werkzeug für mehr Geschwindigkeit, Transparenz und letztlich auch für mehr Rechtsstaatlichkeit.
Österreich: Doppelte Aktenlage und digitale Isolation
Während in Estland die Daten fließen, erstickt die österreichische Justiz im Papier. Die „doppelte Aktenlage“ ist ein Sinnbild für dieses Systemversagen. Jedes Dokument wird elektronisch erfasst – und dann ausgedruckt, abgeheftet und in Papierform durch die Republik geschickt. Das ist nicht nur eine ungeheure Verschwendung von Steuergeldern und Ressourcen , sondern auch ein schwerer Schlag für die Umwelt und ein Ausdruck von tief sitzender Technologiefeindlichkeit.
Doch die Probleme gehen viel tiefer:
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Der Gefangene als Bittsteller um seine eigenen Daten: Gefangene haben keinen direkten Zugang zu ihren Akten. Möchte ein Insasse nachvollziehen, was in seinem Verfahren passiert, muss er einen schriftlichen Antrag stellen. Ein Bediensteter muss diesen Antrag prüfen, die gewünschte Information im Computersystem suchen, sie ausdrucken und dem Insassen aushändigen. Ein absurder, zeit- und personalintensiver Kreislauf, der den Gefangenen in einer Position der Ohnmacht und Abhängigkeit hält.
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Digitale Ausgrenzung statt Resozialisierung: Der vielleicht gravierendste Mangel ist das komplette Fehlen von IT-Zugang für die Insassen. In einer Welt, in Bankgeschäfte, Behördengänge, Kommunikation und selbst die Bestellung eines Menüs digital ablaufen, werden Gefangene systematisch von der Gesellschaft abgeschnitten. Sie haben keine Chance, digitale Kompetenzen zu erlernen, die auf dem Arbeitsmarkt unabdingbar sind. „Es gibt Gefangene hier, die nach wie vor keine Ahnung davon haben, dass man nun rund um die Uhr online ist, Bankgeschäfte online erledigt, etc. die können nicht einmal bei McDonald's am Automaten bestellen, weil sie das nicht kennen.“ Diese Aussage beschreibt nicht nur Wissenslücken, sondern eine fundamentale Entfremdung von der realen Welt. Wie soll so eine gelungene Resozialisierung gelingen?
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Gescheiterte Initiativen: Die Initiative aus dem Jahr 2016 , bei der private PCs gegen sichere Justiz-Tablets getauscht werden sollten, ist charakteristisch. Sie zeigt, dass das Problem erkannt wurde – aber der politische Wille oder die administrative Kraft zur Umsetzung fehlten. Sie ist im Sand verlaufen , wie so viele gute Ansätze.
Die Folgen: Warum uns das alle etwas angeht
Dieser digitale Stillstand hat konkrete, schwerwiegende Konsequenzen:
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Verzögerte Verfahren: Langsame Kommunikation verlängert Untersuchungshaften und verletzt das Recht auf ein faires Verfahren in angemessener Frist.
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Gefährdete Resozialisierung: Ohne digitale Bildung sind Entlassene chancenlos auf dem Arbeitsmarkt. Die Rückfallquote wird erhöht, anstatt gesenkt.
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Menschliche Verrohung: Der Kontakt zur Außenwelt – zu Familie, Freunden, potenziellen Arbeitgebern – wird unnötig erschwert. Digitale Besuchsmöglichkeiten, wie sie in anderen Ländern Standard sind, könnten die Haftbedingungen humanisieren. Zumindest gibt es seit einiger Zeit die Möglichkeit für Insassen über Zoom mit ihren Angehörigen in Verbindung zu treten.
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Verschwendung von Steuergeldern: Die doppelte Aktenführung und der manuelle Verwaltungsaufwand binden Personal und Ressourcen, die an anderer Stelle fehlen.
Unsere Forderungen: Der Weg in einen digitalen, menschlichen Strafvollzug
Wir fordern einen sofortigen Systemwechsel. Es reicht nicht, hier und dort ein bisschen Digitalisierung zuzulassen. Es braucht einen Masterplan „E-Justiz“, der den Strafvollzug als Ganzes in das 21. Jahrhundert führt.
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Abschaffung der doppelten Aktenführung: Die Papierakte muss abgeschafft werden. Die E-Akte muss zur alleinigen und verbindlichen Grundlage aller Justizprozesse werden. Dass nur Anwälte elektronisch Anträge einbringen können (die meistens dann doch noch irgendwo ausgedruckt und abgeheftet werden), ist zu wenig.
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Aktentransparenz für Gefangene: Gefangene müssen über gesicherte Terminal-PCs in den Anstalten Einsicht in ihre eigene elektronische Akte erhalten. Sie müssen verstehen können, worüber entschieden wird.
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Digitales Lernen und Kontakthalten: Einführung von sicheren, pädagogisch betreuten Tablets oder PCs in den Hafträumen für Bildungszwecke. Zugang zu offline-basierten oder kontrollierten Online-Lernplattformen. Möglichkeit zu digitalen Besuchen per Videokonferenz, um familiäre Bindungen zu stärken und weite Anreisen zu vermeiden.
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Umsetzung statt Absichtserklärungen: Die Politik muss die Mittel bereitstellen und die Justizverwaltung muss verpflichtet werden, konkrete Projekte mit klaren Zeitplänen umzusetzen. Das Scheitern der Initiative von 2016 darf sich nicht wiederholen.
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Unterstützung für zivilgesellschaftliche Projekte: Innovative Ansätze wie unser NAP Projekt, bei dem Gefangene durch freiwillige Arbeit Gutscheine für Bildungseinrichtungen erhalten, müssen aktiv gefördert und in die digitale Strategie eingebunden werden.
Fazit: Digitalisierung ist keine Gefahr, sondern eine Chance für mehr Gerechtigkeit
Österreich hinkt nicht nur hinterher – es verweigert sich aktiv den Möglichkeiten, die die Digitalisierung für einen modernen, effizienten und humanen Strafvollzug bietet. Jeder Tag, an dem in den Justizanstalten Papierberge wachsen, während die Insassen in digitaler Dunkelheit sitzen, ist ein verlorener Tag für die Resozialisierung und ein Schlag ins Gesicht des Rechtsstaats.
Wir fordern die verantwortlichen Politiker und Justizvertreter auf: Schauen Sie nach Estland! Lernen Sie von den Besten! Hören Sie auf, Steuergelder für ineffiziente Strukturen zu verschwenden und investieren Sie in die Zukunft der Menschen, die eines Tages wieder unter uns leben werden.
Die Freiheit beginnt nicht erst am Gefängnistor. Sie beginnt mit Information, Bildung und der Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben – auch hinter Gittern.
Gemeinsam für einen modernen Strafvollzug. Inmates Shelter – Unterstützung für Gefangene










