10.Dezember - Tag der Menschenrechte
10.Dezember - Tag der Menschenrechte
Der 10. Dezember erinnert uns jedes Jahr daran, dass Menschenrechte universell, unteilbar und nicht verhandelbar sind. Sie gelten für alle Menschen , ohne Ausnahme. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – aber in der Praxis ist es genau jener Bereich, der am häufigsten vergessen wird: der Strafvollzug .
Wer über Menschenrechte spricht, meint oft politische Gefangene in Diktaturen, Unterdrückte in autoritären Regimen oder Opfer großer Konflikte. Doch selten richtet sich der Blick dorthin, wo Staaten still und mit gesellschaftlichem Einverständnis Menschen ihrer Freiheit berauben – in Gefängnissen.
Für uns bei Inmates Shelter ist der Tag der Menschenrechte deshalb kein abstraktes Datum. Er ist ein Anlass, die Aufmerksamkeit genau auf jene Menschen zu lenken, deren Rechte im Alltag systematisch übersehen werden: Gefangene in österreichischen Justizanstalten – und weltweit.
Menschenrechte enden nicht an Gefängnismauern
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – 1948 formuliert, als direkte Antwort auf die Abgründe des 20. Jahrhunderts – ist eindeutig:
Menschenwürde ist unantastbar. Strafgefangene bleiben Menschen. Punkt.
Doch wenn man ehrlich ist, sieht der Alltag in vielen Haftanstalten anders aus.
Gefangene erfahren gesellschaftlich eine Form von Unsichtbarkeit. Sie sind für die Mehrheit unbequem, moralisch „erledigt“, häufig stigmatisiert und im schlimmsten Fall schlicht egal. Ihre Geschichten landen nicht in Zeitungen – außer bei Skandalen. Ihre Perspektiven werden nicht gefragt. Ihre Stimme zählt selten.
Und genau deshalb sind Gefangene so verletzlich.
Denn Menschenrechte schützen vor Willkür – und Willkür gedeiht dort, wo niemand hinsieht.
Österreich – ein Land mit vermeintlich „gutem“ Strafvollzug?
Österreich betrachtet sich gerne als Land, in dem Gefängnisse human geführt werden. Tatsächlich zeigt ein Blick über die Grenzen, dass unsere Justizanstalten durchaus international vergleichbar gut dastehen.
Aber „gut“ ist relativ – und reicht nicht.
Wer täglich mit Insassen arbeitet, Briefe liest, Geschichten hört und Fälle begleitet, weiß:
Auch im österreichischen Strafvollzug gibt es strukturelle Probleme
, die dringend angesprochen werden müssen. Und zwar ehrlich.
1. Überbelegung – ein Dauerproblem, das Menschen schadet
Viele österreichische Anstalten liegen seit Jahren an der Belastungsgrenze oder darüber. Zu wenig Platz bedeutet:
– weniger Privatsphäre
– weniger Zugang zu Therapie
– Stress
– Gewalt
– weniger Chancen auf Resozialisierung
Überbelegung ist kein logistisches Problem – sie ist ein menschenrechtliches .
2. Personalmangel – und die Folgen dafür, wie Menschen behandelt werden
Wenig Personal führt zu weniger Aufsicht, weniger Gesprächen, weniger Unterstützung.
Es führt zu Erschöpfung, Dienstüberlastung und dadurch zu Situationen, in denen Fehler passieren.
Gefängnisse sind hochkomplexe soziale Räume. Unterbesetzung zerstört jede Chance auf einen funktionierenden Alltag und gefährdet sowohl Personal als auch Insassen.
3. Psychische Belastung – ein Tabuthema
Viele Gefangene leiden unter Angstzuständen, Depressionen, Panikattacken oder traumatischen Erlebnissen. Viele haben Suchterkrankungen oder kommen aus Umfeldstrukturen, die von Gewalt geprägt sind.
Wer glaubt, dass Haft diese Probleme „löst“, irrt.
In Wahrheit verstärken sich viele dieser Themen im Gefängnis massiv.
Zu wenig psychologische Betreuung ist kein Randproblem – es ist eine menschenrechtliche Katastrophe , die längst als solche benannt werden müsste.
4. Isolation statt Resozialisierung
Der Zweck des Strafvollzugs ist laut Gesetz klar definiert: Resozialisierung
.
Doch der Alltag entspricht oft eher einer Verwahrung.
Fehlende Programme, zu wenig Personal, zu wenig Kontakt nach außen und fehlende sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten führen dazu, dass Gefangene sich über Monate und Jahre vom Leben entfernen.
Menschen wieder in die Gesellschaft zurückführen zu wollen, während man sie gleichzeitig von ihr abschneidet, ist schlicht widersprüchlich.
Der globale Blick: Was in Gefängnissen passiert, sollte uns alle alarmieren
Wenn wir unsere eigene Situation verstehen wollen, müssen wir auch international hinschauen. Denn weltweit zeigt sich ein Muster:
Gefängnisse gehören zu den Orten, an denen Menschenrechte am ehesten verletzt werden – systematisch und oft im Verborgenen.
Einige Beispiele, die man nicht relativieren darf:
USA – das Land mit den meisten Gefangenen der Welt
Mit rund zwei Millionen Inhaftierten ist das US-Strafsystem ein gigantisches soziales Experiment – und eines, das auf vielen Ebenen gescheitert ist.
Überbelegung, Gewalt, Rassismus, fehlende medizinische Versorgung und profitgetriebene Privatgefängnisse zeigen, wie gefährlich ein entmenschlichter Strafvollzug werden kann.
Lateinamerika – Gewalt, Korruption, Überleben
Viele Gefängnisse in Mittel- und Südamerika sind de facto unter Kontrolle von Banden. Gewalt ist dort ein tägliches Ereignis, und Menschenrechte existieren oft nur auf dem Papier.
Asien – Isolationshaft, politische Unterdrückung
In mehreren asiatischen Staaten werden Gefängnisse genutzt, um politische Dissidenten mundtot zu machen. Folter, Einzelhaft und fehlende medizinische Versorgung gehören zur Realität.
Afrika – Ressourcenmangel und extreme Überfüllung
Viele Einrichtungen sind derart überfüllt, dass selbst grundlegende Standards wie Hygiene, medizinische Versorgung oder Ernährung nicht gewährleistet werden können.
Warum ist dieser globale Blick wichtig?
Weil er uns zeigt, dass Menschenrechte im Gefängnis immer bedroht sind
– egal ob wir von einem reichen EU-Staat oder einem instabilen Land sprechen. Gefängnisse sind Orte, die ohne ständige Kontrolle, Transparenz und gesellschaftliche Wachsamkeit schnell in menschenrechtliche Abgründe abrutschen.
Warum der Strafvollzug uns alle betrifft – auch wenn wir nie dort landen
Viele Menschen denken:
„Das betrifft mich nicht. Wer dort sitzt, hat etwas getan.“
Doch das ist zu kurz gedacht – und ehrlich gesagt gefährlich.
Denn Strafvollzug ist kein Paralleluniversum.
Er ist Teil unserer Gesellschaft.
Wenn Menschen jahrelang isoliert werden, ohne ausreichende psychologische Hilfe, ohne soziale Kontakte, ohne berufliche Perspektiven – dann kommen sie irgendwann zurück. Zu uns. In dieselbe Gesellschaft.
Schlechter Strafvollzug schafft nicht nur Leid, sondern auch Zukunftsprobleme:
– höhere Rückfallquote
– größere soziale Kosten
– mehr Gewalt
– mehr Unsicherheit
Guter Strafvollzug schafft Sicherheit. Schlechter Strafvollzug schafft Instabilität.
Deshalb ist es kein Nischen-Thema – es ist ein gesellschaftliches.
Was Inmates Shelter tut – und warum wir es tun
Wir haben Inmates Shelter gegründet, weil wir gesehen haben, wie groß die Lücke ist zwischen Anspruch und Realität.
Was fehlt, ist oft nicht der gute Wille einzelner Menschen im System – sondern die Strukturen, die notwendig wären, um Resozialisierung wirklich möglich zu machen.
Unsere Arbeit basiert auf drei einfachen Überzeugungen:
-
Kontakt ist ein Menschenrecht.
Ohne sozialen Austausch verliert ein Mensch den Boden unter den Füßen. Briefe, Gespräche, Unterstützung – das sind keine Luxusgüter, sondern Grundlagen menschlicher Existenz. -
Resozialisierung beginnt während der Haft – nicht danach.
Wenn wir warten, bis jemand entlassen wird, ist es zu spät. -
Gefangene sind Menschen. Punkt.
Ihre Fehler definieren nicht ihren Wert.
Wir unterstützen Gefangene in Briefkontakten, sozialen Anliegen, juristischen Hinweisen, Wiedereingliederungsthemen und vielem, was im System verloren geht. Wir versuchen, Perspektive zurückzugeben, wo Verzweiflung den Alltag dominiert.
Menschenrechte im Gefängnis – ein paar Realitäten, die viele nicht kennen (oder nicht kennen wollen)
Um realistisch über Menschenrechte im Strafvollzug zu sprechen, müssen wir unangenehme Tatsachen aussprechen:
1. Psychische Krisen sind Alltag – und viele bleiben unbehandelt
Suizidalität, Angst, Überforderung, Trauma:
Viele Gefangene leiden massiv und fallen dennoch durch alle Raster.
2. Kontaktverlust zerstört Menschen
Wenn Familie, Partner oder Freundeskreis sich abwenden, bleibt oft nur noch Leere. Und diese Leere ist gefährlich.
3. Bildung und Arbeit sind nicht selbstverständlich
Viele erhalten keine Ausbildungschancen oder Tätigkeiten, die ihnen langfristig helfen würden.
4. Gewalt existiert – auch wenn niemand darüber spricht
Gewalt geschieht nicht nur physisch.
Auch Isolation, Schikane, strukturelle Vernachlässigung oder fehlende Unterstützung sind Formen von Gewalt.
5. Der Übergang in die Freiheit ist oft härter als die Haft selbst
Kaum Wohnung, kaum Geld, kaum Perspektive.
Viele landen innerhalb weniger Monate wieder in Situationen, die sie ursprünglich überhaupt erst in die Kriminalität gedrängt haben.
Wenn wir Menschenrechte ernst meinen, müssen wir diese Realitäten ernst nehmen – nicht wegschauen.
Der 10. Dezember erinnert uns daran, dass Menschenrechte kein „Dankeschön an Brave“ sind
Sie sind kein Bonuspunkt für gutes Verhalten.
Sie sind kein Belohnungssystem.
Sie sind kein Preis, den man sich verdienen muss.
Menschenrechte sind universell.
Sie gelten für Täter und Opfer, für Kranke und Gesunde, für Arme und Reiche, für Außenseiter und für Angepasste.
Und ja – auch für Gefangene.
Dass diese Selbstverständlichkeit heute noch erklärt werden muss, zeigt, wie viel Arbeit vor uns liegt.
Was sich ändern muss – in Österreich und weltweit
1. Mehr Transparenz und unabhängige Kontrolle
Gefängnisse müssen regelmäßig und unabhängig überprüft werden. Frühwarnsysteme für Missstände sind notwendig.
2. Ausbau psychologischer und psychiatrischer Betreuung
Ohne eine solide psychosoziale Versorgung bleibt Resozialisierung ein leeres Schlagwort.
3. Mehr Kontaktmöglichkeiten und weniger Barrieren
Familie, Freunde und soziale Netzwerke stabilisieren Menschen. Das muss gefördert, nicht behindert werden.
4. Bessere Ausbildungsmöglichkeiten und sinnvolle Arbeit
Arbeit darf nicht bloß Beschäftigung sein. Sie muss Perspektive schaffen.
5. Personalmangel ernst nehmen
Überlastetes Personal ist ein Sicherheitsrisiko. Modernisierung und Aufstockung sind notwendig.
6. Entstigmatisierung
Gesellschaftliche Härte gegenüber Kriminalität ist nachvollziehbar.
Aber Härte gegenüber Menschen, die wir irgendwann wieder integrieren müssen, ist schlicht kurzsichtig.
Unser Appell an diesem 10. Dezember
Schaut hin.
Fragt nach.
Interessiert euch.
Gefängnisse sind Teil unserer Gesellschaft – auch wenn wir sie räumlich auslagern.
Menschenrechte gelten immer . Gerade dort, wo Menschen ihre Freiheit verloren haben. In Justizanstalten in Österreich, in Europa, global.
Und wenn wir es ernst meinen, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient, dann müssen wir dafür sorgen, dass diese Chance überhaupt realistisch existiert.
Nicht irgendwann.
Nicht theoretisch.
Sondern jetzt.











