Zwischen Werkbank und Zellentüre

presse • 7. November 2025

 

Zwischen Werkbank und Zellentür

Wir von Inmates Shelter wollen heute ein Thema zur Diskussion stellen, das selten in den Schlagzeilen auftaucht — und das trotzdem zutiefst systemrelevant ist: den Lohn- und Gerechtigkeitsabstand zwischen Handwerksbetrieben außerhalb und handwerklichen Arbeitsplätzen innerhalb österreichischer Justizanstalten. Nicht als moralisierender Populismus, sondern als aufklärender Fakten-Check — mit der klaren Forderung: Wenn fachliche Arbeit erbracht wird, darf es keine zwei Klassen von Entlohnung und Anerkennung geben.

Kurz zusammengefasst: Viele Inhaftierte arbeiten in qualifizierten handwerklichen Bereichen (Tischlerei, Schlosserei, Metallbearbeitung). Gesetzlich gibt es zwar Stundensätze für Strafgefangene — aber durch Abzüge, Sparrücklagen und fehlende Sozialversicherungsleistungen bleibt in der Praxis nur ein Bruchteil des Wertes bei denen, die die Arbeit tatsächlich leisten. Gleichzeitig profitieren der Staat und die Anstalten von dieser Differenz — oft ohne, dass Resozialisierungseffekte oder faire Perspektiven für die Arbeitnehmenden gewährleistet werden.


1) Was sagt das Gesetz — und was ist die Realität?

Das Strafvollzugsgesetz (§52 StVG) definiert Vergütungsstufen für Häftlingsarbeit; für handwerksgemäße Arbeiten (also z. B. Tischler- oder klassische Werkstättenarbeit) ist die gesetzliche Bemessung explizit ausgewiesen — und wurde in den letzten Jahren angepasst. Für 2025 ergibt die amtliche Tabelle z. B. für „handwerksgemäße Arbeiten“ einen Brutto-Stundenwert von 9,74 € (Anmerkung 3 in §52). Für „Facharbeiten“ liegen die Anpassungen 2025 sogar noch höher. Das ist der gesetzliche Referenzwert pro geleisteter Stunde. RIS

Aber: das Gesetz kennt zugleich den sogenannten Vollzugskostenbeitrag (§32 StVG). Wenn ein Gefangener Arbeitsvergütung bezieht, werden 75 % der Arbeitsvergütung als Vollzugskostenbeitrag einbehalten — erst der Rest steht zur Hälfte als Hausgeld und zur anderen Hälfte als Rücklage zur Verfügung. Das ist kein Marginalabzug, das ist Regel. Jusline Österreich

Die praktische Folge ist offensichtlich: ein gerechneter Brutto-Stundenwert (z. B. 9,74 €) wird in den Taschen der arbeitenden Person massiv reduziert. Die geprüften Kontrollinstanzen haben ausgerechnet, dass nach Abzug von Vollzugskostenbeitrag und dem Arbeitnehmeranteil zur Arbeitslosenversicherung im Schnitt nur rund 5 Euro pro Strafhafttag (Mittelwert) zur Verfügung bleiben — verteilt auf Ersparnisse, Hausgeld etc. Das ist kein Lohn, das ist eine symbolische Teilentlohnung. Für viele Insassen ist der Betrag jedoch noch deutlich geringer (2 bis 3 Euro am Tag). Der Rechnungshof+1


2) Wie groß ist die Differenz? Eine Beispielrechnung (transparent & nachvollziehbar)

Wir machen die Rechnung Schritt für Schritt, damit die Größenordnung klar wird — wir verwenden öffentliche Zahlen:

A. Gesetzliche Stundenvergütung für handwerkliche Arbeiten (2025)

  • Handwerksgemäße Arbeiten: 9,74 €/h (RIS / §52 — Anm. 3, Stand 2025). RIS

B. Abzüge

C. Effektiver Betrag für den Häftling (bei 1 Stunde Arbeit)

  • 9,74 € × 25 % = 2,435 € pro geleisteter Stunde (das ist der rechnerische Rest nach dem Vollzugskostenbeitrag).

D. Tatsächliche Arbeitszeit / Realität

  • Studie und Berichte zeigen, dass viele arbeitende Gefangene im Schnitt nur etwa 14 Stunden pro Woche im Betrieb tätig sind (Quelle: Berichterstattung über Beschäftigungsumfänge; als praxisnahe Orientierung). Das entspricht monatlich ~60,7 Arbeitsstunden (14 × 4,333 Wochen/Monat). Kurier

E. Monatliches Beispiel-Einkommen (Brutto vs. tatsächlich verfügbar)

  • Brutto (theoretisch) bei 9,74 €/h × 60,7 h ≈ 591,50 € / Monat.

  • Davon behalten: 75 % → verbleibend beim Gefangenen: 25 % von 591,50 € ≈ 147,88 € / Monat (= Hausgeld/Rücklage etc.). Das entspricht in etwa dem, was Prüfungen und Rechnungshof-Berichte als typischen Betrag bestätigen (durchschnittlich nur wenige Euro pro Hafttag bzw. ein niedriger dreistelliger Euro-Betrag pro Monat). Die Praxis zeigt außerdem, dass als Hausgeld im Endeffekt etwa € 100 pro Monat übrig bleiben. RIS+1

F. Vergleich: Handwerker in Freiheit (konservative Marktzahlen)

  • Ein Tischler/Tischlerin in Österreich verdient (je nach Erfahrungsjahren und Region) typischerweise zwischen ca. 1.800 € und 3.000 € brutto pro Monat ; Median-Werte liegen oft bei rund 2.100–2.600 €. Das entspricht in Stundenpreisen bei 40 h/ Woche etwa 12–15 €/h (konservative Rechennahme). karriere.at +1

G. Fazit der Rechnung (konkret)

  • Gefangen: ~147–160 € / Monat netto verfügbar (bei dem Beispielumfang) — das sind faktisch 2–5 € pro Tag an individuell verfügbaren Mitteln. Der Rechnungshof+1

  • Außenstehender Facharbeiter (Tischler/Schlosser): ~1.800–3.000 € brutto/Monat — deutlich höher, mit Sozialversicherung, Krankenstand, Pensionsansprüchen. karriere.at +1

Kurz gesagt: Der reale Nettobetrag, der bei der arbeitenden Person in Haft ankommt, ist in den meisten Fällen nur ein Bruchteil (häufig unter 10–15 %) dessen, was ein gleich qualifizierter Kollege außerhalb bekommt. Die Rechnung ist konservativ und belegt: es handelt sich nicht um eine marginale, sondern um eine systemische Lohnschere.


3) Warum das nicht nur ein Lohn-Problem ist (sondern ein Resozialisierungs- und Gerechtigkeitsproblem)

Wir wollen hier drei Ebenen unterscheiden:

A) Fachlichkeit & Qualifikation Viele Häftlinge arbeiten nicht als einfache Hilfskräfte — sie machen handwerksgemäße oder sogar fachliche Arbeiten. Es gibt Lehrbetriebe in Justizanstalten, es werden Lehrabschlüsse absolviert und fachliche Qualifikationen vermittelt (Beispiele: Lehrgänge, praktische Prüfungen). Die Justiz selbst bekennt, dass Aus- und Weiterbildung ein zentrales Ziel des Vollzugs ist. Trotzdem werden diese Fähigkeiten nicht angemessen entlohnt, noch (in voller Höhe) sozialversichert. Justiz Österreich

B) Abzüge und fehlende Sozialversicherung = strukturelle Benachteiligung Die massiven Abzüge (Vollzugskostenbeitrag u. a.) schmälern die kurzfristige Ersparnis — und entscheidender: In vielen Fällen entstehen keine oder nur sehr eingeschränkte Rentenansprüche oder andere sozialversicherungsrechtliche Vorteile, die Beschäftigten außerhalb selbstverständlich zustehen. Das unterminiert die langfristige Perspektive der Resozialisierung. Justiz Österreich

C) Staatliche Inanspruchnahme & Kostenreduktion Der Staat (als Auftraggeber/allgemeiner Dienstherr) und die Betriebsstrukturen der Justiz reduzieren mit diesem System faktisch Arbeitskosten — im Zweifel auf Kosten der Betroffenen. Dieses Missverhältnis wirft Fragen der Verhältnismäßigkeit und der politischen Legitimation auf: Wenn es wirklich um Resozialisierung geht, warum bleibt der finanzielle Nutzen nicht stärker bei denen, deren Zukunft dadurch verbessert werden könnte?


4) Ein Blick auf Graz-Karlau (konkret — weil konkrete Daten vorliegen)

Die Justizanstalt Graz-Karlau ist eine der großen Anstalten in Österreich und wird häufig in Berichten über Vollzugs- und Umbaufragen genannt. Karlau betreibt klassische Werkstätten und Beschäftigungsmaßnamen; lokale Recherchen und Reportagen zeigen, dass es dort handwerkliche Tätigkeiten gibt, die von fachlich geschulten Insassen ausgeführt werden. Gleichzeitig gibt es Berichte, die auf sehr niedrige effektive Verdienste (Stundenlöhne im niedrigen einstelligen Bereich vor Abzug — teilweise 1,40–1,90 €/h in älteren Reportagen für bestimmte Tätigkeiten) verweisen. Diese Praxis illustriert das zentrale Problem: fachliche Leistung + geringe Auszahlung = Widerspruch zu Resozialisierungszielen. Wikipedia+1

(Anmerkung: Karlau wird außerdem in Gutachten und Regierungspapieren wiederholt genannt — etwa im Zusammenhang mit Umbauten, Sicherheitsfragen und Beschäftigungskonzepten — was die Relevanz einer öffentlichen Debatte noch erhöht.) bmj.gv.at


5) Ethische Einordnung — ist das Ausbeutung?

Kurz, klar, und ohne Beschönigung: Wir halten es nicht für Resozialisierung, wenn Menschen fachliche Arbeit leisten, aber überproportional vom erwirtschafteten Wert ausgeschlossen werden. Wenn der Staat auf der einen Seite Aus- und Weiterbildung fördert — und auf der anderen Seite den Löwenanteil der finanziellen Früchte einbehält, dann fördert er formal die Beschäftigung, aber nicht die ökonomische Selbstbefähigung.

Die Rechnung lautet politisch: Wen nützt das System? In der Praxis nützt es den Anstaltsbetrieb und in Teilen den Staatshaushalt — zu Lasten der persönlichen Perspektiven der Betroffenen. Wir argumentieren: Wenn Arbeit zur Resozialisierung beitragen soll, muss sie arbeitsmarktfähig, sozial abgesichert und fair entlohnt sein.


6) Konkrete Forderungen (realpolitisch umsetzbar)

Wir fordern, in abgestuften und realisierbaren Schritten:

  1. Transparenzpflicht : Öffentliche Veröffentlichung von Durchschnittsverdiensten (brutto und netto nach Abzug) pro Justizanstalt und Berufskategorie — damit die Diskussion nicht nur aus Einzelfällen besteht. (Basis: Rechnungshof-Empfehlungen). Der Rechnungshof

  2. Anrechnung von Arbeitszeiten : Pflicht zur Anrechnung von Häftlingsarbeitszeiten auf sozialversicherungsrechtliche Ansprüche oder zumindest klar geregelte Ersatzleistungen. Bis dato wird die Zeit, die ein Insasse in Haft arbeitet, nicht auf die Pensionszeiten angerichnet. findok.bmf.gv.at

  3. Deckelung des Vollzugskostenbeitrags / progressive Staffelung : Statt pauschal 75 % Einbehaltung eine Staffelung nach Einkommen, Ausbildung oder Einsatzzweck — so bleibt für niedrig Verdienende mehr zum Lebensunterhalt und zur Resozialisierung. Jusline Österreich

  4. Faire Tariforientierung : Wenn im Anstaltsbetrieb fachliche Arbeiten geleistet werden, sollen diese (auch bei Aufträgen für außenstehende Auftraggeber) nach Kollektivvertragsstandards vergütet werden — oder der Differenzbetrag muss in Bildungs- und Entlassungsfonds fließen. wko.at

  5. Monitoring und Evaluation : Unabhängige Prüfstellen (z. B. Rechnungshof/Volksanwaltschaft) sollen regelmäßig Resozialisierungseffekte und die wirtschaftliche Nutzung von Häftlingsarbeit evaluieren. Der Rechnungshof


7) Was wir konkret vorschlagen

  • Teilen : Verbreitet den Beitrag, damit das Thema im öffentlichen Diskurs sichtbarer wird.

  • Diskutieren : Kommentare mit Erfahrungen aus Handwerk, Sozialarbeit, Justiz, Betriebswirtschaft sind willkommen — wir sammeln Praxisberichte für eine Dokumentation.

  • Politischen Druck erzeugen : Verlinkt lokale Abgeordnete, Gewerkschaften und Journalist*innen — Transparenz entsteht, wenn Öffentlichkeit folgt.

  • Kooperation : NGOs, Gewerkschaften oder Handwerksinnungen, die mit uns an einer Policy-Paper arbeiten wollen — wir sind offen für Vernetzung.


8) Quellen

  • Gesetzliche Grundlage §52 StVG (Höhe der Arbeitsvergütung) — RIS / StVG; mit den 2025-Anpassungen (z. B. handwerksgemäß: 9,74 €/h für 2025). RIS

  • Vollzugskostenbeitrag (§32 StVG) — Abzug von 75 % der Arbeitsvergütung. Jusline Österreich

  • Rechnungshofbericht (Resozialisierung / Beschäftigung) — belegt durchschnittliche verfügbare Beträge nach Abzug und fordert Maßnahmen. Der Rechnungshof

  • Berichterstattung / Recherchen (z. B. Der Standard, Datum) über effektive Tagesauszahlungen bzw. sehr niedrige Stundenlöhne für Häftlinge in der Praxis. DER STANDARD+1

  • Marktgehälter Handwerk (Tischler/Schlosser) — karriere.at / Lohnanalyse / Kununu etc. (Orientierungswerte: ~1.800–3.000 € brutto/Monat je nach Region/Erfahrung). karriere.at +1

(Weitere Quellen und detaillierte Rechnungen legen wir euch gerne als Dokument oder Anhang bei — falls ihr den Beitrag als PNG/PDF mit Quellenanhang posten wollt.)


9) Schlusswort

Wir erkennen an: Beschäftigung in Haft kann und soll Teil der Resozialisierung sein. Doch ein System, das fachliche Tätigkeit erst erlaubt, dann die finanziellen Früchte zu großen Teilen entzieht und zugleich die sozialen Absicherungen nicht gewährt, kann nicht das Ziel „Wiedereingliederung in die Gesellschaft“ erfüllen. Das ist keine harmlose Sparmaßnahme — das ist eine strukturelle Schwächung derjenigen, die am Perspektiven brauchen.

Wir fordern faire Entlohnung, soziale Absicherung und echte Trans­parenz. Für eine gerechtere, evidenzbasierte Straffullzugspolitik. Für Resozialisierung, die ihren Namen verdient.

(is)


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