Das Martyrium nach der Tat

presse • 6. Dezember 2025

Was opfer nach der Gewalttat wirklich durchstehen müssen

Einleitung: Die Gewalt endet – aber das Leiden nicht


Viele Menschen glauben, dass das schlimmste für Betroffene häuslicher Gewalt der Moment der Tat ist. Das stimmt nicht. Für viele Opfer beginnt nach der Tat ein zweites Martyrium – eines, das länger dauert, psychisch tiefer schneidet und sich über Wochen, Monate oder Jahre ziehen kann.

Dieser Artikel beleuchtet die Realität, wie sie ist: ungeschönt. Er zeigt, wie das System, das eigentlich schützen soll, Betroffene oft zusätzlich belastet. Nicht aus böser Absicht, sondern aufgrund veralteter Abläufe, institutioneller Trägheit, emotionaler Blindheit oder fehlender Trauma-Kompetenz.


1. Die Tat ist vorbei – aber der Albtraum beginnt erst


Nach einer Gewalttat sind Opfer in einem Zustand von Schock, Desorientierung und extremer psychischer Überlastung. Sie zittern, haben Schmerzen, sind voller Angst – und sollen in genau diesem Zustand „funktionieren“.

Sie müssen:

  • klar antworten
  • Details erinnern
  • Abläufe beschreiben
  • zeitliche Reihenfolgen rekonstruieren

Während ihr Körper eigentlich nur eines will: Zusammenbrechen, schlafen, weinen, atmen.

Doch dafür bleibt kein Raum. Das System setzt voraus, dass sie sofort bereit sind, alles chronologisch und detailgenau zu erzählen – während im Inneren alles chaotisch, verzerrt und überflutet ist.


2. Das Krankenhaus: Untersuchungen, Fragen, Wartezeit – und ein weiterer Kontrollverlust


Viele Opfer berichten, dass die Stunden im Krankenhaus fast schlimmer sind als die Tat selbst. Warum?

Weil sie dort:

  • ausgezogen
  • untersucht
  • fotografiert
  • abgetastet
  • befragt

werden – oft mehrfach, von verschiedenen Personen, manchmal mit wechselndem Personal.

Die Untersuchungen sind medizinisch notwendig, ja. Aber sie sind auch zutiefst entwürdigend – besonders für Menschen, die gerade körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt haben.

Die Fragen kommen wie ein automatischer Ablauf:

  • „Wie ist es passiert?“
  • „Wann genau?“
  • „Wie war die Position?“
  • „Was hat er vorher gesagt?“
  • „Hat er gedroht?“

Es ist Routine für medizinisches Personal. Für das Opfer ist es die erste Wiederholung des Traumas – innerhalb von Minuten nach der Gewalt.

Und viele vergessen: Im Krankenhaus gibt es keine psychologische Begleitung. Keinen geschützten Raum. Keine Zeit zu atmen.

Nur Hektik, Neonlicht, fremde Menschen – und die Erwartung zu funktionieren.


3. Danach die Polizei: noch mehr Fragen, noch mehr Wiederholungen, noch mehr Druck


Nach dem Krankenhaus kommt die Polizei – und beginnt von vorn. Wieder erzählen, wieder durchleben, wieder erklären.

Opfer müssen:

  • eine Aussage machen
  • Zeitabläufe rekonstruieren
  • Widersprüche vermeiden
  • möglichst präzise sprechen

Das alles klingt logisch – und ist dennoch für die Betroffenen kaum machbar.

Ein traumatisierter Mensch erinnert Details nicht linear. Trauma speichert keine geordnete Filmsequenz ab. Trauma speichert Bruchstücke, Körperempfindungen, Geräusche, Einzelbilder.

Doch das System erwartet: Logik. Struktur. Reihenfolge. Präzision.

Und wenn etwas nicht übereinstimmt, wird das Opfer verunsichert – oder fühlt sich unglaubwürdig. Viele Opfer berichten, sie hätten sich in diesen Momenten mehr wie Beschuldigte gefühlt als wie Betroffene.


4. Wiederholte Befragungen – immer dieselben Fragen, immer dieselben Schmerzen


Eine der härtesten Wahrheiten: Die erste Befragung war nicht die letzte. Viele Opfer müssen:

  • nochmal kommen
  • erneut aussagen
  • neue Protokolle unterschreiben
  • Widersprüche erklären
  • Positionen klären

Und jedes Mal reißt es die Wunde wieder auf.

Opfer berichten oft: „Es war, als würde ich die Tat jedes Mal neu erleben.“ „Ich habe irgendwann aufgehört, zu sprechen – nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht mehr konnte.“ „Die Polizei meinte, sie müsse nur ‚ganz sicher gehen‘ – für mich war es Folter.“

Viele Betroffene ziehen an diesem Punkt in Betracht, die Anzeige zurückzuziehen – nicht weil sie den Täter schützen wollen, sondern weil das System sie zermürbt.


5. Gewalt-Schutzzentren: gut gemeint, aber psychisch extrem belastend


Die Gewalt-Schutzzentren haben eine wichtige Funktion – keine Frage. Sie beraten, unterstützen, schützen.

Aber: Auch hier müssen Opfer wieder alles erzählen. Die gesamte Tat. Alle Details. Alle Gefühle. Alle Ängste.

Die Absicht ist richtig. Die Wirkung ist für viele jedoch retraumatisierend.

Viele berichten: „Ich habe das Gefühl gehabt, ich muss ständig beweisen, dass ich das Opfer bin.“ „Ich wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden, aber ich musste wieder sprechen, wieder erklären, wieder weinen.“

Der worst case: Niemand hat die Kapazität, die Person auch emotional aufzufangen. Es geht um Akten, Dokumentation, Gefährdungsanalysen – aber nicht um Heilung.


6. Die Gerichtsverhandlung – der härteste Punkt


Gerichtsverhandlungen sind für viele Opfer der absolute Tiefpunkt. Warum?

Weil:

  • der Täter physisch im selben Raum sitzt
  • Anwälte das Opfer oft aggressiv befragen
  • jede Erinnerung erneut durchgekaut wird
  • Details in Frage gestellt werden
  • Charakter und Glaubwürdigkeit bewertet werden
  • Opfer vor Fremden über intime Details sprechen müssen

Viele sagen: „In der Gerichtsverhandlung hat sich zum zweiten Mal jemand über mich erhoben.“ „Ich hatte das Gefühl, ich werde für seine Tat bewertet.“ „Er hat mich angeschaut, als würde ich lügen. Das hat wieder alles in mir ausgelöst.“

Und ja, es gibt Gerichte, die sensibel sind. Aber viele sind es nicht. Und das beschädigt Opfer ein zweites Mal – oft schlimmer als die Tat selbst.


7. Wenn der Fall in den Medien landet – der Kontrollverlust wird total


Der absolute Horror für viele: Die Tat wandert in die Medien.

Dann wird:

  • über sie berichtet
  • spekuliert
  • kommentiert
  • geurteilt
  • ihr Privatleben öffentlich durchleuchtet

Das Opfer verliert endgültig jede Kontrolle. Nicht selten folgen:

  • Schuldzuweisungen
  • Victim-Blaming
  • öffentliche Vorverurteilung
  • Verletzende Kommentare in sozialen Medien

Viele Opfer ziehen sich danach komplett zurück und misstrauen Behörden, Medien und manchmal sogar ihrem eigenen Umfeld.


Warum eine andere Vorgehensweise dringend nötig ist


Das System ist nicht böse – aber es ist kalt, überlastet, veraltet und nicht trauma-informiert. Es zwingt Betroffene, ihre Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, ohne zu verstehen, dass genau das sie jedes Mal bricht.

Was wäre nötig?

  • Trauma-sensitive Ermittlungsführung
  • Spezialisierte Einvernahmeteams
  • Ein einziges, geschütztes Erstinterview, das rechtlich nutzbar ist
  • Psychologische Begleitung ab Minute 1
  • Entlastung statt Belastung
  • Echte Priorisierung von Opferschutz statt Formalitäten

Solange das nicht selbstverständlich ist, bleibt der Satz wahr: Für viele Opfer beginnt das schlimmste Kapitel nicht mit der Tat, sondern mit dem System danach.


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