Wegsperren statt Therapie?

presse • 27. Oktober 2025

 

Die chemische Mauer: Psychisch Erkrankte Wegsperren statt Therapie?

Wie der österreichische Strafvollzug psychische Erkrankungen wegsperrt – statt sie zu heilen

Hinter Gittern verschwinden nicht nur Menschen, sondern auch ihre Diagnosen. Depressionen, Traumata, Psychosen – im österreichischen Strafvollzug werden sie oft nicht behandelt, sondern betäubt. Eine Tablette ist billiger als eine Therapiestunde. Eine ruhige Zelle bequemer als ein durchlittener Heilungsprozess. Doch wer weggesperrt und ruhiggestellt wird, ist bei der Entlassung nicht gesund. Er ist nur stiller gefährlich.

Einleitung: Der lautlose Aufschrei

Stellen Sie sich einen Raum vor, in dem Schmerz nicht gehört, sondern unterdrückt wird. In dem Angst nicht getröstet, sondern medikamentös erstickt wird. In dem die Wunden der Seele nicht heilen dürfen, weil man nur dafür sorgt, dass sie nicht mehr bluten. Willkommen im psychiatrischen Alltag des österreichischen Strafvollzugs.

Das Gesetz spricht von Resozialisierung. Doch was bedeutet es, einen Menschen zu "resozialisieren", dessen psychische Grundsubstanz durch Vernachlässigung, Übermedikation und Isolation nachhaltig geschädigt wurde? Während wir draußen über Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen diskutieren, herrscht hinter den Mauern der Justizanstalten ein System, das Stigmatisierung institutionalisiert hat. Es ist ein System, das nicht zwischen Therapie und Kontrolle unterscheidet – oder das den Unterschied bewusst ignoriert.

Dieser Artikel ist eine Anklage. Er beleuchtet, wie der Staat seine Fürsorgepflicht gegenüber den vulnerabelsten Menschen in seinem Gewahrsam verletzt. Es ist die Geschichte einer stillen Epidemie, die mit Pillen statt mit Kompetenz bekämpft wird.

Kapitel 1: Die Diagnose: Systemversagen

1.1 Die epidemiologische Lage: Ein Brennpunkt der psychischen Krankheiten

Gefängnisse sind de facto die größten psychiatrischen Anstalten des Landes. Internationale Studien zeigen, dass bis zu 70% der Inhaftierten an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung leiden. In Österreich dürfte die Lage nicht anders sein. Es handelt sich um eine hochgradig traumatisierte Population: Viele bringen ihre Erkrankungen von "draußen" mit, andere entwickeln sie erst "drinnen" – durch die Haftbedingungen selbst.

1.2 Der gesetzliche Anspruch und der gelebte Zynismus

Das Strafvollzugsgesetz verpflichtet den Staat zur Gesundheitsfürsorge. Der Anspruch ist "gleichwertig" zur Versorgung in der Freiheit. In der Realität ist diese Gleichwertigkeit eine Farce. Der Mangel an Personal, Zeit und Ressourcen führt zu einem Versorgungssystem, das nicht heilen, sondern verwalten will. Der Insasse mit einer Depression wird nicht als Kranker, sondern als Problemfall wahrgenommen, der das reibungslose Funktionieren der Anstalt stört. Das Therapieziel wird vom Wohl des Patienten auf die Aufrechterhaltung der Ordnung verschoben.

Kapitel 2: Das Mittel der Wahl: Die chemische Keule

2.1 Der Weg des geringsten Widerstands

Therapieplätze sind rar, Psychiater überlaufen, Gespräche zeitintensiv. Eine Tablette hingegen ist schnell verabreicht, billig und vorhersagbar in ihrer (beruhigenden) Wirkung. Das System, chronisch überlastet, wählt daher oft den pharmakologischen Weg. Es ist eine Frage der Ökonomie und der Bequemlichkeit.

2.2 Von der Behandlung zur Ruhigstellung

Hier vollzieht sich der ethische Bruch. Medikamente, die eigentlich zur Stabilisierung im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts dienen sollten, werden zu Instrumenten der Gefängnisverwaltung.

[Ehemaliger Strafgefangener JA Graz - Karlau] "Ich war wegen meiner Aggressionen in Therapie. Aber die Therapie fand kaum statt. Stattdessen bekam ich Tabletten, die mich so müde und gleichgültig machten, dass ich mich nicht mal mehr aufregen konnte. Ich war ein Zombie. Das war das Gegenteil von Hilfe – das war Kontrolle."

Die Grenze zwischen indizierter Medikation und pharmakologischer Fixierung verschwimmt. Symptome werden unterdrückt, ohne dass an den Ursachen gearbeitet wird. Der Insasse wird funktional für den Systemerhalt gemacht – auf Kosten seiner psychischen Gesundheit.

Kapitel 3: Der Schwarzmarkt der Seelen – Wenn Psychopharmaka zur Währung werden

Die inoffizielle Zahl von 80% der Insassen, die Psychopharmaka erhalten, ist ein politischer Skandal. Sie entlarvt das System der "Behandlung" als das, was es ist: ein flächendeckendes, staatlich toleriertes Dopingprogramm zur Aufrechterhaltung der Ruhe.

Doch das System ist noch perverser, als es auf den ersten Blick scheint. Es hat einen blühenden Schwarzmarkt hervorgebracht, der von der systemischen Unterversorgung und dem Kontrollversagen profitiert.

[Donna P. - JA Schwarzau] "Benzos sind die Währung im Knast. Wer ein Rezept hat, ist ein König. Du gehst zum Psychiater, spielst deine Symptome schlimmer als sie sind, und verkaufst die Hälfte der Packung weiter. Ein Stück (eine Tablette) bringt dir zwischen 5 und 10 Euro. Davon kannst du dir alles kaufen, was du im Knast brauchst: besseres Essen, Schutz, Handy-Karten. Die Wärter schauen weg – ein ruhiger Insasse ist auch für sie ein guter Insasse, egal wie er ruhig gestellt wird."

Die Konsequenzen sind fatal:

  • Iatrogene Abhängigkeit: Der Staat produziert durch seine leichtfertige Verschreibungspraxis massenhaft Medikamentenabhängige.
  • Machtungleichgewicht: Der Schwarzmarkt schafft neue Hierarchien und Abhängigkeiten und führt zu Erpressung und Gewalt.
  • Therapie als Farce: Das gesamte therapeutische Setting wird korrumpiert. Der Fokus liegt nicht auf Heilung, sondern auf der Beschaffung von Handelsware.

Kapitel 4: Die Komplizen – Ein System im kollektiven Versagen

4.1 Die überforderten Ärzte: Gatekeeper eines kranken Systems

Die forensischen Psychiater stehen unter immensem Druck. Sie sind die einzige legitime Quelle für die begehrten Substanzen und werden von Insassen manipuliert, während sie gleichzeitig von der Anstaltsleitung unter Druck gesetzt werden, für "Ruhe" zu sorgen. In dieser Zwickmühle wird die Diagnostik zur Farce und das Rezeptblock zur primären Problemlösung.

4.2 Die Justizwache: Wegsehen als Überlebensstrategie

Die Justizwachebeamten sind keine Dealer. Aber sie sind oft überfordert, unterbesetzt und haben den Auftrag, Konflikte zu vermeiden.

[Martin H - JWB] "Was sollen wir machen? Wenn wir jeden Handel mit Benzos auf dem Spazierhof unterbinden wollten, bräuchten wir für jeden Insassen einen eigenen Beamten. Und wozu? Der Psychiater verschreibt es ihnen ja legal. Unser Auftrag ist es, für Ruhe zu sorgen. Und solange es keine Schlägereien gibt, ist es uns egal, ob die Insassen ihre Pillen selbst schlucken oder verkaufen."

Diese Haltung des "strategischen Wegsehens" macht die Justizwache zu stillen Komplizen eines Systems, das die Gesundheit von Menschen für einen fragwürdigen Frieden opfert.

4.3 Die Verwaltung: Die Bürokratie des Leidens

Die Verantwortlichen in den Ministerien und Anstaltsleitungen verwalten das Problem, statt es zu lösen. Sie verstecken sich hinter Personalstatistiken, Haushaltsplänen und dem Mantra der "Sicherheit und Ordnung". Die Tatsache, dass Wartezeiten für eine Einzeltherapie bis zu fünf Jahre betragen können, ist kein bedauerlicher Einzelfall, sondern Ausdruck einer bewussten politischen Prioritätensetzung: Kontrolle geht vor Heilung.

Kapitel 5: Der rechtliche Albtraum – Zwangsbehandlung als Vollzugsstrategie

Die rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen einen perfiden Automatismus der Unterwerfung.

5.1 Der Zwang zur Compliance

Die Androhung, als "nicht compliant" eingestuft zu werden, ist eine der mächtigsten Waffen im System. Für einen Insassen, besonders in der §21 Maßnahme, ist diese Einstufung ein Todesurteil für jede Hoffnung auf Entlassung. Der Druck, die Tabletten zu schlucken – egal, ob er sie für notwendig hält oder nicht – ist enorm. Die freie Entscheidung über den eigenen Körper ist abgeschafft.

5.2 Der Makel in der Akte

Ein Vermerk über "mangelnde Mitwirkungsbereitschaft" oder "Verweigerung medizinischer Maßnahmen" verfolgt den Insassen wie ein Schatten durch den gesamten weiteren Vollzug. Er wird als "schwierig" abgestempelt, was seine Verlegung in privilegierte Abteilungen, seinen Arbeitsplatz und seine Haftbedingungen negativ beeinflusst. Dies ist keine Therapie, sondern erzwungene Anpassung unter Androhung von Repressalien.

Die Tatsache, dass Insassen von Psychopharmaka wegkommen wollen, sollte eigentlich gefördert werden. Stattdessen ist es mit großartigen Repressalien verbunden, die bis hin zu einer deutlich längeren Haftzeit gehen können.


Kapitel 6: Die Entlassung – Die Zeitbombe tickt weiter

Was geschieht mit einem Menschen, der Jahre oder Jahrzehnte lang chemisch ruhiggestellt wurde und dem systematisch die Fähigkeit genommen wurde, mit seinen Emotionen umzugehen?

6.1 Der kalte Entzug in die Freiheit

Die Entlassung bedeutet für viele einen abrupten Entzug der gewohnten Psychopharmaka. Die ambulante Versorgung ist lückenhaft, Termine bei niedergelassenen Psychiatern schwer zu bekommen. Der entlassene Insasse steht mit seinen nun ungefiltert durchbrechenden, nie bewältigten Problemen alleine da.

6.2 Die perfide Logik des Rückfalls

Das System produziert damit genau das, was es vorgeblich verhindern will: Rückfälligkeit. Ein psychisch kranker, destabilisierter, oft abhängiger Mensch, der mit den Anforderungen des Alltags überfordert ist, greift schnell zu alten Bewältigungsstrategien – der Kriminalität. Der Kreislauf schließt sich. Das Gefängnis sichert sich so selbst seine "Kundschaft".


Kapitel 7: Die Anklage – Es ist kein Systemversagen, es ist Systematik

Die Zustände sind kein Zufall. Sie sind das Ergebnis einer bewussten Politik.

  1. Anklagepunkt: Vorsatz durch Unterlassen. Der Gesetzgeber und die Vollzugsbehörden wissen seit Jahren von den Missständen. Die Wartezeiten, der Schwarzmarkt, der Personalmangel sind bekannt. Dennoch werden keine ausreichenden Mittel für Therapieplätze und Fachpersonal bereitgestellt.
  2. Anklagepunkt: Körperverletzung im Amt. Die Verabreichung von Psychopharmaka ohne adäquate therapeutische Begleitung und zu dem primären Zweck der Gefängnisruhe ist eine Form von institutionalisierter Körperverletzung. Erst vor wenigen Tagen hat ein Gericht festgestellt, dass Mobbing, und somit psychische Belastung, als Körperverletzung zu werten ist. Uns sind Fälle bekannt in denen die Verabreichung von Psychopharmaka bis hin zur vorübergehenden Bewusstlosigkeit sowie anderen massiven Nebenwirkungen, bis hin zu eklatanten Leberschäden, geführt hat.
  3. Anklagepunkt: Verletzung der Fürsorgepflicht. Der Staat beraubt die Insassen ihrer psychischen Gesundheit und ihrer Chance auf ein Leben in Freiheit ohne Abhängigkeit.

Forderungen: Es muss sich alles ändern, damit etwas besser wird

  1. Sofortige Aufstockung des therapeutischen Personals mit dem Ziel, Wartezeiten auf maximal vier Wochen zu begrenzen. Finanziert durch Kürzungen im Sicherheits- und Überwachungsapparat.
  2. Transparenz und Kontrolle: Einführung unabhängiger , externer Kontrollgremien, die den Einsatz von Psychopharmaka in Justizanstalten überwachen und Missbrauch melden. Das aktuelle Prozedere ist ein Witz. Behörde A prüft Behörde B, die wiederum von Behörde A abhängig ist. Auf Deutsch gesagt, ein Gutachter wird vom Gericht beauftragt, der natürlich auch vom Gericht bezahlt wird. wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er etwas "Unangenehmes" für das Gericht schreibt?
  3. Strafrechtliche Verfolgung von Verantwortlichen, die den Schwarzmarkt dulden oder aktiv unterstützen.
  4. Ein landesweites Konzept für forensische Ambulanzen, das eine nahtlose Weiterbehandlung nach der Entlassung garantiert.
  5. Abschaffung des " Compliance "-Drucks als Bewertungskriterium für Haftverläufe. Therapie muss freiwillig und auf Augenhöhe sein.

Schluss: Eine Frage der Menschlichkeit

In den österreichischen Gefängnissen wird täglich ein stiller, chemischer Krieg gegen die Psyche von Tausenden Menschen geführt. Es ist ein Krieg, der nicht gewonnen, sondern nur verloren werden kann. Verloren von den Insassen, die ihrer Gesundheit beraubt werden. Verloren von der Gesellschaft, die die Rückkehrer als gebrochene, oft gefährlichere Menschen zurückerhält.

Wir müssen uns fragen: Wollen wir wirklich ein Justizsystem, das sich nicht damit beschäftigt, warum Menschen brechen, sondern nur damit, wie man sie klebt, damit sie leise sind? Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie gilt auch hinter Gittern. Sie gilt besonders für die, die im Dunkeln verschwinden sollen.

(ms/is)

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