Eine Abrechnung mit dem österreichischen Strafvollzug
„Es kostet uns ein Vermögen, macht kaum jemanden besser – und schadet vielen dauerhaft. Warum halten wir an einem System fest, das so offensichtlich scheitert?“
🔹 Inhalt:
- Einleitung
- Die Realität: Was Haft in Österreich wirklich bedeutet
- Was es kostet, jemanden einzusperren
- Wer profitiert vom aktuellen Strafvollzug?
- Wer verliert – und zwar langfristig?
- Rückfall als Systemfolge
- Fehlende Alternativen – oder fehlender Wille?
- Menschenrechtsverletzungen und institutionelles Versagen
- Internationale Vergleiche
- Unsere Forderungen
- Fazit: Wenn der Strafvollzug krank ist, wird die Gesellschaft mitbestraft
- Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Der Strafvollzug in Österreich ist ein System, das Milliarden verschlingt, ohne nachhaltige Sicherheit zu schaffen. Wir reden nicht über Einzelfälle, sondern über ein strukturelles Problem. Wer sich mit den Zuständen in unseren Justizanstalten befasst, erkennt schnell: Das derzeitige Modell basiert auf Wegsperren, nicht auf Wiedereingliederung. Auf Repression, nicht auf Resozialisierung. Auf Symbolpolitik, nicht auf Lösungen.
Als NGO, die sich für Menschenrechte im Strafvollzug einsetzt, stellen wir eine einfache Frage: Wem nützt das eigentlich – außer dem Mythos von Härte und Kontrolle?
2. Die Realität: Was Haft in Österreich wirklich bedeutet
In Österreich sitzen aktuell (Stand: Anfang 2025) rund 8.000 Menschen in Haft. Die Justizanstalten sind regelmäßig überbelegt. Bereits 2023 warnte die Volksanwaltschaft vor „untragbaren Zuständen“ – insbesondere in U-Haft und im Maßnahmenvollzug.
Haft in Österreich bedeutet:
- Zellen mit 4 bis 6 Personen
- Beschäftigungstherapie statt echter Arbeit
- Unterversorgung in der medizinischen Betreuung
- Teure Telefonate & eingeschränkte Besuche
- So gut wie keine Bildungsangebote
- In vielen Fällen: soziale Isolation und psychischer Abbau
Die meisten Insass:innen sind keine Schwerverbrecher. Rund ein Drittel sitzt wegen Eigentumsdelikten, viele wegen Sucht, Schulden oder Ersatzfreiheitsstrafen (z. B. unbezahlte Verwaltungsstrafen).
3. Was es kostet, jemanden einzusperren
Laut Justizministerium (2023) kostet ein Haftplatz in Österreich im Schnitt rund 150 Euro pro Tag – das sind ca. 55.000 Euro pro Person und Jahr.
Wenn man diese Zahl hochrechnet:
- Bei 8.000 Häftlingen → jährlich rund 440 Millionen Euro
- Darin nicht enthalten: Baukosten, Sanierungen, externe Gutachten, Sicherheitsdienste etc.
- Bei Maßnahmenvollzug (psychiatrisch) ist der Tageskostensatz noch höher: teils über 300 €/Tag
🔹 Zum Vergleich:
- Ein Sozialarbeiter verdient im Schnitt 30.000–40.000 €/Jahr
- Ein Pflegeplatz für betreutes Wohnen liegt meist unter 60.000 €/Jahr
- Ein Suchttherapieplatz kostet rund 20.000–30.000 €/Jahr
→ Für den Preis von einem Gefängnisplatz könnten wir 2–3 Plätze in Prävention oder Therapie finanzieren. Aber statt vorzubeugen, zahlen wir für Wegsperren.
4. Wer profitiert vom aktuellen Strafvollzug?
Man muss es so klar sagen: Das System dient nicht der Gesellschaft – sondern sich selbst.
Profiteure sind:
- Betreiber privater Gutachten und psychiatrischer Einrichtungen im Maßnahmenvollzug
- Verwaltung : Ein aufgeblähter Apparat mit eigenen Karrierewegen
- Politik : Der Ruf nach „Härte“ bringt mehr Stimmen als der Ruf nach Lösungen
- Unternehmen : Gefangene arbeiten teils für Centlöhne in Haft – ohne Sozialversicherung oder echte Ausbildung
🔸 Ein Beispiel: In manchen Anstalten wird für 0,80 bis 2,00 Euro pro Stunde gearbeitet. Das ist nicht nur unwürdig, sondern auch volkswirtschaftlich absurd: Kein Häftling kann davon Schulden begleichen oder Rücklagen aufbauen.
5. Wer verliert – und zwar langfristig?
Die Liste ist lang:
- Die Insass:innen – ohne Perspektive, mit Stigma, oft psychisch beschädigt
- Die Familien – besonders Kinder leiden unter Trennung und Armut
- Die Gesellschaft – durch hohe Rückfallraten, Folgekosten und verlorene Arbeitskraft
- Das Sozialsystem – denn viele Entlassene landen in Notunterkünften, bei der Mindestsicherung oder in der Klinik
Der Strafvollzug produziert genau das, was er zu verhindern vorgibt: soziale Ausgrenzung, Kriminalitätskarrieren und öffentliche Kosten.
6. Rückfall als Systemfolge
Etwa 50 % aller entlassenen Häftlinge werden innerhalb von 5 Jahren rückfällig – je nach Delikt und Lebenssituation sogar mehr. (Quelle: BMSGPK & Statistik Austria, 2022)
🔸 Warum?
- Kaum Entlassungsvorbereitung
- Keine Wohnmöglichkeit
- Keine Jobperspektive
- Stigmatisierung am Arbeitsmarkt
- Keine stabile Bezugsperson
Es braucht kein kriminelles „Milieu“, um rückfällig zu werden – es reicht die Aussichtslosigkeit nach der Entlassung.
7. Fehlende Alternativen – oder fehlender Wille?
Alternativen zur Haft gäbe es viele. Einige Beispiele:
- Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen (z. B. für Schwarzfahren, Verwaltungsstrafen)
- Therapie statt Haft bei Suchterkrankungen
- Elektronische Fußfesseln – kosten rund 40 €/Tag, sind also deutlich günstiger
- Gemeinnützige Arbeit statt Kurzstrafen
- Betreutes Wohnen für Entlassene mit professioneller Begleitung
All das ist möglich, bewährt – aber nicht politisch gewollt. Stattdessen hält man an einer Logik fest, die sagt: „Gefängnis = Strafe = Gerechtigkeit“. Dabei ist sie oft schlicht: Vergeltung ohne Wirkung.
8. Menschenrechtsverletzungen und institutionelles Versagen
Die Volksanwaltschaft dokumentierte allein 2023 in über 40 Fällen schwere Mängel im Justizvollzug:
- Überbelegung
- Zwangsmedikation ohne richterlichen Beschluss
- Unzureichende medizinische Versorgung
- Gewalt durch Mitinsassen ohne Konsequenzen
- Psychiatrische Unterbringung ohne Behandlung
Amnesty International kritisierte zudem in mehreren Berichten den Maßnahmenvollzug als menschenrechtswidrig. Besonders brisant: Einige Menschen sitzen dort zeitlich unbegrenzt , obwohl sie nie ein vollwertiges Gerichtsverfahren durchliefen – weil sie als „gefährlich“ gelten.
9. Internationale Vergleiche
Österreich liegt im EU-Vergleich…
- bei den Haftzahlen pro Kopf im oberen Drittel
- bei den Haftkosten deutlich über dem Durchschnitt
- bei der Rückfallquote höher als skandinavische Länder
🔸 Beispiel: In Norwegen liegt die Rückfallquote bei rund 20 % – dort setzt man auf kleine Anstalten, Wohnraum statt Zellen, persönliche Betreuung und Ausbildung. Das Modell von Halden Prison zeigt: Es funktioniert – weil der Mensch im Zentrum steht, nicht die Strafe.
10. Unsere Forderungen
Wir als NGO fordern eine grundlegende Neuausrichtung des Strafvollzugs. Konkret:
A. Ersatzfreiheitsstrafen abschaffen
Menschen gehören nicht ins Gefängnis, weil sie arm sind. Wer Verwaltungsstrafen nicht zahlen kann, braucht Hilfe – keine Zelle.
B. Therapie vor Haft
Sucht ist eine Krankheit, keine Schuldfrage. Derzeit landen tausende Süchtige hinter Gittern – ohne jede Behandlung.
C. Resozialisierung statt Abrichtung
Bildung, Arbeit mit Perspektive, Betreuung durch Fachkräfte – keine stumpfe Beschäftigung.
D. Fußfessel ausbauen
Bei geringen Risiken ist die elektronische Überwachung kostengünstiger, sozialverträglicher und effektiver.
E. Maßnahmenvollzug reformieren
Unbegrenzte Unterbringung ohne Rechtsmittel ist untragbar. Es braucht gesetzliche Maximalfristen, unabhängige Kontrolle und Therapieangebote.
F. Transparenz und Kontrolle
Volksanwaltschaft stärken, externe Besuchskommissionen ausbauen, Missstände öffentlich machen.
11. Fazit: Wenn der Strafvollzug krank ist, wird die Gesellschaft mitbestraft
Gefängnis ist teuer, ineffizient und oft schädlich. Es verhindert weder Armut noch Sucht, weder Gewalt noch Rückfall. Stattdessen produziert es Ausschluss, neue Straftaten – und hohe Kosten für uns alle.
Solange wir glauben, dass Wegsperren ein Ausdruck von Gerechtigkeit ist, werden wir keine gerechtere Gesellschaft schaffen.
12. Quellenverzeichnis (Auswahl)
- Rechnungshofbericht zur Justizvollzugsanstalt Stein, 2023
- Volksanwaltschaft Österreich – Bericht an den Nationalrat, 2023
- Amnesty International – Österreich: Maßnahmenvollzug unter der Lupe, 2022–2024
- BMSGPK – Rückfallstatistik Strafvollzug, 2022
- Statistik Austria – Kriminalitäts- und Justizstatistiken
- APA / Der Standard / Die Presse / ORF – Berichterstattung 2022–2025
- Justizministerium Österreich – Budget und Kostensätze, 2023










