Die übersehene Krise: Jeder Suizid ist einer zu viel. Warum wir Chancen verpassen.
Hinter 7 jährlichen Haftsuiziden in Österreich stehen über 2.000 dokumentierte Hilferufe bzw. Suizidversuche. Eine Analyse der verpassten Chancen und was sich ändern muss.
Einleitung: Der Fall, der alles hätte ändern können
Es begann mit einer zerknüllten Notiz, die eine Justizwachebeamtin bei ihrem Kontrollgang fand. "Halte das nicht mehr aus" stand darauf - handschriftlich, mit zittriger Linie. Der Insasse, ein 24-jähriger in Untersuchungshaft, hatte seinen dritten "Hilferuf" in zwei Wochen hinterlassen. Doch dieses Mal blieb die systematische Nachkontrolle aus, die Prozedur wurde als "wiederholte Aufmerksamkeitshascherei" abgetan. Zwei Tage später war der junge Mann tot.
Diese Tragödie ist kein Einzelfall, sondern System. Während wir in Österreich durchschnittlich 7 Haftsuizide pro Jahr beklagen, dokumentieren Justizanstalten gleichzeitig über 2.000 Suizidgefährdungen und Hilferufe - das zeigen aktuellste Studien des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie. Auf jeden vollendeten Suizid kommen damit mehr als 200 Warnsignale.
Doch warum behandeln wir diese Signale nicht mit derselben Ernsthaftigkeit wie die vollendeten Taten? Dieser Artikel beleuchtet die dramatische Diskrepanz zwischen Präventionsmöglichkeit und Wirklichkeit - und warum die Annahme, es handle sich bei vielen Suizidankündigungen "nur" um Hilferufe, tödlich irreführend ist.
Das Zahlenbild: Der Eisberg unter der Spitze
Die offizielle Statistik: Was das BMfJ erfasst
Das Bundesministerium für Justiz dokumentiert in seinen Sicherheitsberichten gewissenhaft die Todesfälle. Für 2022 verzeichnete es 24 Todesfälle in österreichischen Justizanstalten, davon 7 durch Suizid. Diese Zahl erscheint zunächst niedrig - doch sie erzählt bei weitem nicht die ganze Geschichte.
Die wissenschaftliche Perspektive: Die IRKS-Studien
Die entscheidende Erweiterung liefern die Studien des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS). Die NEKROLOG-Studie (2010-2015) analysierte 193 Todesfälle und identifizierte 61 Suizide - also durchschnittlich 10 pro Jahr.
Noch aufschlussreicher ist die Folgestudie "Suizid und Suizidprävention im österreichischen Justizvollzug" (2018) , die erstmals das gesamte Spektrum suizidalen Verhaltens in fünf Justizanstalten über drei Jahre erfasste:
- 5 Suizide
- 34 schwere Suizidversuche
- 1.095 Suizidgefährdungen und Hilferufe
Hochgerechnet auf alle österreichischen Justizanstalten ergibt sich ein erschütterndes Bild: Während wir uns auf die 7-10 vollendeten Suizide pro Jahr konzentrieren, gibt es gleichzeitig:
- Über 70 schwere Suizidversuche
- Mehr als 2.000 dokumentierte Hilferufe und Suizidgefährdungen
"Diese Hilferufe sind keine Bagatellen", betont eine Studienautorin. "Jede dieser Äußerungen repräsentiert eine akute psychische Krise, die sofortige Intervention erfordert."
Der tödliche Irrtum: "Das ist doch nur ein Hilferuf!"
Das Kontinuum der Suizidalität
In der forensischen Psychiatrie unterscheidet man nicht zwischen "ernsthaften" und "unechten" Suizidandrohungen. Vielmehr spricht man von einem Kontinuum , das von passiven Todeswünschen über konkrete Pläne bis zum letalen Ausgang reicht. Die sogenannten "Hilferufe" stellen dabei keine separate Kategorie dar, sondern gehören essenziell zu diesem Kontinuum.
Warum die Unterscheidung tödlich sein kann:
- Die Dynamik der Eskalation: Was heute als "Hilferuf" beginnt, kann morgen durch zusätzliche Faktoren (eine negative Nachricht von außen, Konflikte mit Mitinsassen, Verlängerung der U-Haft) in einen tödlichen Entschluss umschlagen. Die Studie dokumentiert mehrere Fälle, bei denen Insassen ihre Suizidabsichten mehrfach angekündigt hatten - ohne dass adäquate Maßnahmen folgten.
- Das Kompetenz-Paradoxon: Gerade bei wiederholten Suizidankündigungen tritt oft ein Gewöhnungseffekt beim Personal ein. "Der schon wieder" - diese Haltung übersieht, dass die Wiederholung nicht mangelnde Ernsthaftigkeit, sondern zunehmende Verzweiflung signalisiert.
- Die Überschneidungszone: In der Praxis ist es nahezu unmöglich, sicher zwischen "Manipulation" und "echter Suizidalität" zu unterscheiden. Ein Insasse, der mit Suizid droht, um eine Verlegung zu erreichen, kann gleichzeitig tatsächlich suizidal sein. Die sichere Strategie: Im Zweifel für das Leben.
Die fatale Logik: "Echte Selbstmörder sprechen nicht darüber"
Dieses veraltete Vorurteil wird durch die Daten klar widerlegt. Die IRKS-Studie zeigt, dass über 80% der Insassen, die Suizid begingen, im Vorfeld erkennbare Signale aussandten - seien es verbale Äußerungen, Verhaltensänderungen oder konkrete Vorbereitungshandlungen.
"Der 'perfekte' Suizid ohne Vorankündigung ist die Ausnahme, nicht die Regel", so ein forensischer Psychiater. "Das Problem ist nicht das Fehlen von Warnsignalen, sondern unser systematisches Übersehen dieser Signale."
Die Präventionslücke: Warum wir so viele Chancen verpassen
Strukturelle Defizite im Vollzugsalltag
- Personalknappheit und Zeitdruck: Eine Justizwachebeamte hat durchschnittlich weniger als 5 Minuten pro Stunde für jeden Insassen - inklusive aller Kontrollgänge und Verwaltungstätigkeiten. Tiefgründige Gespräche über psychische Nöte sind unter diesen Bedingungen kaum möglich.
- Mangelnde Spezialausbildung: Obwohl das BMJ in den letzten Jahren Schulungsprogramme ausgeweitet hat, verfügt längst nicht jedes Personal über die notwendige Expertise, um subtile Suizidsignale zu erkennen.
- Architektonische Hindernisse: Viele Justizanstalten stammen aus dem 19. Jahrhundert und sind für moderne Präventionsstandards ungeeignet. Sichtblenden, ungesicherte Aufhängepunkte und mangelnde Überwachungsmöglichkeiten erschweren die Prävention.
Das Dokumentationsdilemma
Interessanterweise werden Suizidversuche und -gefährdungen in Österreich nicht einheitlich und verpflichtend erfasst. Während einige Anstalten penibel dokumentieren, fehlt anderen die systematische Erfassung. Dies führt zu einer dramatischen Untererfassung der tatsächlichen Krisensituationen.
"Ein Suizidversuch mit Aspirin-Überdosis wird oft als 'Krankmeldung' verbucht, eine Schnittverletzung als 'Unfall'", erklärt ein ehemaliger Anstaltsleiter. "So entsteht statistisch das verzerrte Bild, dass die Lage unter Kontrolle sei."
Lösungsansätze: Was sich jetzt ändern muss
Fallbeispiel: "Worte können töten – Die Geschichte von M. aus Graz-Karlau"
Es gibt Fälle, in denen sich die abstrakten Zahlen mit einem Namen, einem Gesicht und einer unerträglichen menschlichen Tragödie verbinden. Einer dieser Fälle ist M. , der heute 24 Jahre alt ist und seit acht Jahren in der Justizanstalt Graz-Karlau in der Sicherungsverwahrung sitzt. Verurteilt wurde er, als er 16 Jahre alt war – noch ein Jugendlicher, der heute kaum mehr weiß, wie ein Leben in Freiheit aussieht.
Jedes Jahr stellt M. ein Ansuchen auf Aufhebung der Maßnahme. Jedes Jahr erhält er dieselbe standardisierte Antwort : "Es ist noch nicht Zeit." Doch nicht nur die Freiheit wird ihm verwehrt. Auch Anträge auf Fortbildungen, Schulabschlüsse oder handwerkliche Ausbildungen werden systematisch abgelehnt. Begründet wird dies mit mangelnder "Dringlichkeit" oder "fehlenden Ressourcen".
Doch der zutiefst entmutigende Höhepunkt: Sogar die gesetzlich vorgesehene jährliche Anhörung vor Gericht wurde zuletzt abgesagt – mit der Begründung, es "mache keinen Sinn". Und dann der Satz, der alles veränderte: Die zuständige Richterin ließ M. über seinen Anwalt ausrichten: "Solange ich im Amt bin, werden Sie nicht nach Hause gehen."
Die Folge: Kein Hilferuf, sondern ein Todesentschluss
M. unternahm keinen "Hilferuf". Er versuchte, sich das Leben zu nehmen. Und als Rettungskräfte ihn fanden, wehrte er sich gegen jede lebenserhaltende Maßnahme. Er wollte nicht gerettet werden. Nicht, weil er das Leben hasste – sondern weil das System ihm jede Hoffnung genommen hatte.
Dies ist kein Einzelschicksal. Es ist das Resultat einer Justizkultur , in der Worte wie "noch nicht Zeit", "kein Sinn" oder "solange ich im Amt bin" zu tödlichen Waffen werden.
Was dieser Fall über das System verrät:
- Rechtliche Willkür statt individueller Prüfung Die pauschale Ablehnung von Bildungsanträgen und die Aussetzung gerichtlicher Anhörungen verstoßen gegen das Recht auf Resozialisierung und gegen europäische Menschenrechtsstandards.
- Machtmissbrauch im Richteramt Der Satz "Solange ich im Amt bin..." ist kein rechtliches Urteil, sondern ein Akt persönlicher Machtdemonstration. Er zerstört nicht nur Hoffnung, sondern untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat.
- Suizid als logische Konsequenz systematischer Hoffnungslosigkeit M.s Suizidversuch war kein Hilferuf. Es war die letzte Konsequenz eines Systems , das ihn vergessen hat.
Konkrete Lösungsvorschläge:
1. Paradigmenwechsel in der Personalausbildung
- Vom "Wächter" zum "Krisenmanager": Die Rolle des Justizwachpersonals muss neu definiert werden
- Verpflichtende Fortbildungen zur Früherkennung von Suizidalität
- Entstigmatisierung psychischer Krisen im Vollzugsalltag
2. Strukturelle Reformen
- Einführung eines bundesweiten, verpflichtenden Meldesystems für Suizidgefährdungen
- Ausbau der psychologischen Dienste - derzeit sind viele Anstalten nur stundenweise versorgt
- Schaffung von "Kriseninterventionszellen" mit besonders gesicherter Ausstattung
- Individuelle Begutachtung statt pauschaler Ablehnungen
- Transparente, nachvollziehbare Entscheidungen
- Verpflichtende Fortbildung für Richter:innen im Umgang mit jugendlichen Straftätern
- Unabhängige Beschwerdestellen für Insassen
3. Technische Nachrüstung
- Videoüberwachung mit Auswertung durch speziell geschultes Personal
- Nachrüstung mit sicheren Zelleneinrichtungen
- Notrufsysteme in jeder Zelle
4. Zivilgesellschaftliche Kontrolle
- Stärkung der unabhängigen Beschwerdestellen
- Regelmäßige externe Evaluationen der Präventionsmaßnahmen
- Transparenz durch öffentliche Berichterstattung - nicht nur über Suizide, sondern auch über Präventionserfolge
Fazit: Jeder Hilferuf zählt
Die 7 jährlichen Haftsuizide sind 7 zu viel. Doch die über 2.000 Hilferufe sind nicht weniger alarmierend - sie sind die verpassten Chancen, diese Tragödien zu verhindern.
Unser Rechtsstaat hat eine besondere Garantenstellung gegenüber Menschen in Haft. Diese Fürsorgepflicht endet nicht bei der körperlichen Unversehrtheit, sondern umfasst auch den Schutz vor Selbstschädigung. Jedes "Ich halte das nicht mehr aus" ist ein Testfall für diese Verpflichtung.
Dieser Fall zeigt: Nicht jeder Suizidversuch beginnt mit einer Krise des Einzelnen. Manche beginnen mit den Worten und Entscheidungen jener, die eigentlich Hüter:innen des Rechts sein sollten.
Worte können töten. Und manchmal tragen Richterroben keine Gerechtigkeit, sondern ein Todesurteil.
Die gute Nachricht: Die Daten zeigen, dass wir die Warnsignale erkennen können. Die schlechte Nachricht: Wir handeln noch nicht konsequent genug auf ihrer Grundlage.
Investitionen in Suizidprävention sind keine Sozialromantik, sondern Ausdruck eines modernen, humanen Rechtsstaates. Denn am Ende geht es nicht um Statistiken, sondern um eine einfache Wahrheit: Hinter jedem Hilferuf steht ein Mensch, dessen Leben es zu retten lohnt.
(is)










