Österreichs Strafvollzug am Limit: Wenn Wegsperren zur Gefahr für alle wird
Einleitung
Österreich sperrt ein – aber kümmert sich nicht. Ein grotesker Widerspruch: Unsere Justizanstalten platzen aus allen Nähten, während das Personal nicht mitwächst. Dieses System ist nicht einfach überlastet – es ist kurz vor dem Kollaps.
Stellen Sie sich vor: Zellen, die für 227 Häftlinge gebaut wurden, beherbergen plötzlich 280 – zeitweise sogar mehr. Die Justizanstalt Salzburg läuft heiß, die Stimmung unter den Beamten ist am Tiefpunkt. Nicht, weil sie zu hart arbeiten, sondern weil sie zu wenig sind. ( Parlament Österreich )
Dazu kommt die medizinische Versorgung: Zwar sind die Planstellen für Ärztinnen und Ärzte laut Bericht vollständig besetzt – aber PsychologInnen und SozialarbeiterInnen fehlen massiv. Nur 83 % der psychologischen und 87 % der Sozialdienst-Planstellen sind besetzt – ein Schlag ins Gesicht für jede Idee von Resozialisierung. ( Heute )
Unsere These ist klar: Österreichs Strafvollzug ist ein Pulverfass. Eine politische Ignoranz, die kein gutes Ende nehmen wird – wenn wir nicht sofort handeln.
1. Historische Entwicklung
1990er bis 2010er: Aufnahmewelle, kein Personal
In den 1990ern begann der Ausbau des Strafvollzuges – mehr Plätze, mehr Strafen, mehr Insassen. Doch das Personal blieb auf der Strecke. Die Verurteilungen nahmen zu, aber die Betreuung – juristisch, psychologisch, medizinisch – stagnierte.
Die Volksanwaltschaft warnte früh. Schon 2015 wurde kritisiert, dass in manchen Anstalten ein einziger Arzt für 800 Häftlinge zuständig war – ein Zustand, der nicht nur menschenunwürdig, sondern gefährlich ist. ( Parlament Österreich )
Erste Alarmglocken, aber keine Konsequenzen
Die Personalvertretungen widersetzten sich sogar der Aufnahme von zusätzlichem Fachpersonal in Werkstätten oder im Sozialbereich – obwohl genau das dringend nötig wäre. Die Vorschläge der Volksanwaltschaft bleiben bis heute fast überall unbearbeitet. ( Parlament Österreich )
Rechnungshof: 2019–2023 – Verschärfung statt Besserung
Eine Follow-up-Prüfung des Rechnungshofes zeigt: Zwischen 2019 und 2023 hat sich die Lage sogar verschärft. Haftplätze wurden abgebaut, Resozialisierungsleistungen stagnieren – und das Personal fehlt weiterhin: Anfang 2023 waren 96 % der Stellen besetzt, aber es fehlten über 130 Vollzeitpositionen. Bewerbungen gehen seit 2019 um mehr als ein Viertel zurück. ( Der Rechnungshof )
Kurz gesagt: Mehr Häftlinge, weniger Betreuung und ein Personalsystem, das überfordert ist. Historisch betrachtet: ein System, das ohne Kurskorrektur mutwillig an die Wand fährt.
2. Die aktuelle Lage – Zahlen & Fakten
Überbelegung: Österreich an der Schwelle
Im Jahr 2024 waren durchschnittlich über 10.000 Häftlinge pro Monat in österreichischen Justizanstalten untergebracht – teilweise liegt die Belegung bei über 100 % der Regelkapazität. Besonders betroffen: Stein, Wien-Josefstadt, Graz-Jakomini und Innsbruck. ( Heute )
In Salzburg ist die Lage besonders prekär: Die Justizanstalt hatte eine Auslastung von 280 statt der erlaubten 227 Personen – über 55 % darüber. Stockbetten wurden notdürftig aufgestellt, um Platz zu schaffen. ( Parlament Österreich )
Personalmangel – überall spürbar
Justizwache: Von 3.446 Planstellen waren Ende 2024 93 % besetzt – 177 neue Beamte wurden aufgenommen, doch die Lücken bleiben. ( Heute )
Psychologischer Dienst: Nur 83 % besetzt. Sozialdienst: 87 % besetzt. Deutliches Defizit bei Betreuungspersonal. ( Heute )
Ärztlicher Dienst: Formal besetzt, aber strukturelle Missstände bestehen weiter (z. B. Klinik-Ausführungen). ( Heute , Parlament Österreich )
Krankenstände und Burnout in der Justizwache
Justizministerin Zadić bestätigt: Der Belag steigt, der Druck steigt. Die Personalsituation sei „sehr angespannt“. Fachdienste wie Pflege und Medizin fehlen. Maßnahmen wie die Aufnahme in die Schwerarbeiterregelung und flexiblere Arbeitszeiten wurden zwar gesetzt – aber reicht das? ( Parlament Österreich )
Kosten, Realitäten und Risiken
Ein Hafttag kostet im Schnitt 183 Euro. Für 2024 beliefen sich die Gesamtkosten auf 38,39 Mio Euro. ( Heute )
2022 gab es rund 10.000 Ausführungen in öffentliche Spitäler – obwohl eine spezielle Abteilung existiert. Kosten: fast 90 Mio Euro. Eine Zumutung – für Steuerzahler und Sicherheit gleichermaßen. ( Parlament Österreich )
Kurzfassung – Zahlen auf einen Blick
Parameter Wert / Status
Durchschnitt Haftplätze > 10.000 (monatlich, 2024)
Überbelegung Viele Anstalten > 100 %
Justizwache-Besetzung 93 % (Ende 2024)
Psych. Personal 83 % besetzt
Sozialdienst 87 % besetzt
Kosten pro Häftling/Tag 183 €
Spitalsausführungen 2022 10.000+ Ausführungen, Kosten ~ 90 Mio €
3. Der Alltag: Was der Personalmangel konkret bedeutet
Zellentüren bleiben länger zu – Resozialisierung adé
Wenn Personal fehlt, bleibt eins: mehr Einschlusszeit. Laut Rechnungshof sind Aktivitäten für Häftlinge an Nachmittagen und Wochenenden stark eingeschränkt. Viele sitzen bis zu 23 Stunden täglich in ihrer Zelle – Resozialisierung? Fehlanzeige. ( Parlament Österreich , Der Rechnungshof )
Medizinische und psychologische Unterversorgung – Folgen für Insassen und Personal
Die formale Besetzung der Ärztestellen täuscht über strukturelle Engpässe hinweg. Viele Stunden oder ganze Tage ohne Betreuung sind die Regel – besonders bei psychologischer Hilfe und Krisenintervention.
In Salzburg war laut Volksanwaltschaft in Stein ein einziger Arzt für 800 Häftlinge zuständig – unhaltbar, gefährlich, unverantwortlich. ( Parlament Österreich )
Burnout in Uniform: Wenn Schutzkräfte selber Schutz brauchen
Die Justizwache klagt über Stimmung am Tiefpunkt. Überstunden, fehlende Vertretung und anstehende Pensionierungen machen den Job zur Belastungsprobe. Oberst Dietmar Knebel spricht von einem System, das ohne mehr Personal «an die Wand fährt». ( Parlament Österreich )
Fehlende Tagesstruktur – Gewalt als Folge
Mangelnde Beschäftigung führt nicht nur zu Lagerkoller – sie erzeugt Gewalt. Studien zeigen: 72 % der Insassen berichten von mindestens einem Gewaltvorfall – psychisch, physisch oder sexuell. Enge, lange Einsperrdauer, kaum sinnvolle Tagesstruktur: ein explosiver Mix. ( Reddit )
Und: In Reddit-Berichten beklagen Ex-Inhaftierte stundenlange Einschlusszeiten, meist allein vor dem Fernseher – psychischer Stillstand statt Resozialisierung. ( Reddit )
4. Systemische Ursachen
Politische Ignoranz – Gefängnisse sind kein Thema für Wahlkämpfe
Strafvollzug ist kein Crowd-Pleaser. Wähler interessieren sich nicht für überlastete Beamte oder kranke Insassen – sondern für Sicherheit. Wer das System sprengt, verkommt zu einem kostspieligen Übel, dem man nur politisches Invest nicht gönnt.
Budgetlogik: Resozialisierung rechnet sich nicht kurzfristig
Kurz gesagt: Man zahlt lieber – als etwas zu ändern. Personal, Resozialisierung, Therapie – all das rendiert politisch kaum. Lieber decke ich Menschen ein, statt sie zu betreuen.
Arbeitsbedingungen und Attraktivität der Justizwache
Einmal Justizwache – immer Justizwache? Je länger sie dabei sind, desto weniger wollen sie bleiben. Die Ausbildung ist lang, der Lohn mittelmäßig, die Stimmung miserabel. Kein Wunder, dass 2022 weiterhin 7 % der Planstellen unbesetzt blieben – auch Mitte der 2020er. ( Parlament Österreich , Der Rechnungshof )
Fehlende Querdenker: Sozialarbeit vs. Sicherheitslogik
Die Widerstände gegen Aufnahme von Fachpersonal wie LehrlingsausbilderInnen oder SozialarbeiterInnen sind symptomatisch. „Wenn schon, dann Beamte“ – Mentalität blockiert Innovation. ( Parlament Österreich )
5. Stimmen der Betroffenen
Gewerkschaft und Volksanwaltschaft – Alarmstufe Rot
Die GÖD-Justizwache bezeichnet die Lage als schwer überreizt. Die Beamten stecken in einem System, das sie nicht mehr tragen können – und wollen. Zadić setzt auf schwererarbeiterfreundliche Reformen – aber die Inferno-Wolke bleibt. ( Parlament Österreich )
Die Volksanwaltschaft warnt: Zustände wie ein Arzt für 800 Insassen sind menschenunwürdig. Supervision wird kaum genutzt, weil sie nur außerhalb der Dienstzeit stattfindet. Und die notwendige Zusammenarbeit mit Gesundheits- und Sozialministerien bleibt Wunschdenken. ( Parlament Österreich )
Betroffene Stimmen aus Sozialen Medien
„Untertags ..., der Personalmangel [...] führt aber zu langen Einschlusszeiten – viele Insassen sind also 16 Stunden am Tag in der Zelle eingeschlossen.“ ( Reddit )
Und zur Gewalt: 72 % erlebten mindestens einen Vorfall – von psychischer Gewalt bis Vergewaltigung. „Zellen wurden zu Viertmännern umfunktioniert … Einschlusszeiten und Überbelegung sind eine massive Belastung, die über Freiheitsentzug hinausgeht.“ ( Reddit )
Diese realen Zeugnisse zeigen: Hier geht es nicht um Zahlen, sondern um Menschen – und die Gesellschaft bezahlt den Preis.
6. Vergleich: Österreich vs. Europa
Österreich mag sich im Euroraum als „Mittelmaß“ fühlen – aber beim Strafvollzug steht es nicht in der Mitte, sondern am Limit.
In skandinavischen Ländern setzt man auf Resozialisierung, auf genügend Personal, auf humane Haft. Österreich hingegen behauptet Sicherheit, schafft aber gerade Mal eine verwaltete Überfüllung.
Die Rechnungshofberichte empfehlen e-Hausarrest, überstellte Insassen oder mehr Haftplätze – aber nichts davon wird konsequent umgesetzt. ( Der Rechnungshof , Parlament Österreich )
Österreich hält an veralteten Mustern fest: Wegsperren statt verstehen. Und zahlt dafür – mit Geld, Reputation und, schlimmstenfalls, Menschenleben.
7. Reformoptionen – Was nötig wäre
A. Sofortmaßnahmen
Planstellen aufstocken – insbesondere bei psychologischen und sozialen Diensten, aber auch Justizwache.
Attraktive Bedingungen – Lohn, Arbeitszeiten, Supervision.
Technische Lösungen streichen – Betreuung stärken: Supervision muss während der Dienstzeit möglich sein.
Medizinische Infrastruktur nutzen, statt kostenintensive Auslieferungen – etwa die Barmherzigen Brüder Abteilung besser auslasten. ( Parlament Österreich )
B. Mittel- und langfristige Reformen
Hausarrest ausweiten – bis 24 Monate wäre ein sinnvoller Schritt zur Entlastung. ( Parlament Österreich )
Alternative Sanktionen – Therapie statt Zelle, besonders bei psychisch auffälligen Tätern.
Betriebsstruktur überdenken – mehr interne Werkstätten, keine Schließungen mehr. Beschäftigung ist Resozialisierung. ( Der Rechnungshof )
Mehr Haftplätze mit Qualität, nicht Quantität – Neues bauen darf nicht heißen: Wegsperren plus.
Gesamtstrategie über Ressorts – Justiz, Gesundheit, Soziales gemeinsam an einem Tisch – so wie es die Volksanwaltschaft verlangt. ( Parlament Österreich )
Zivilgesellschaft einbinden – NGOs, psychologische Verbände, Gemeindeinitiativen. Das System darf nicht allein von staatlicher Verwaltung bestimmt werden.
8. Fazit
Österreichs Strafvollzug ist nicht nur ein Verwaltungsproblem – er ist gesellschaftlicher Blindflug. Ein System, das Überbelegung, Personalmangel und psychische Auszehrung als Normalzustand akzeptiert, gefährdet nicht nur die Insassen – sondern uns alle.
Wenn wir so weitermachen, wird das Recht auf menschenwürdige Haft zur Farce. Das muss endlich öffentlich gemacht werden: Wir zahlen nicht nur Geld – wir zahlen mit unserer Würde, unserem sozialen Frieden, unserer Zukunft.
Und das ist kein Schicksal. Es ist politisch gemacht – und politisch korrigierbar.
Denn am Ende gilt: Wegschauen ist keine Option.










