Die Fußfessel.

presse • 27. Oktober 2025

 

Fußfessel - Chance auf Resozialisierung?


Einleitung: Freiheit auf Zeit – oder nur ein anderes Gefängnis?

Wenn von Strafvollzug die Rede ist, haben die meisten Menschen ein sehr klares Bild vor Augen: hohe Mauern, Stacheldraht, verschlossene Zellentüren. Österreichs Gefängnisse sind überfüllt, die Justiz klagt seit Jahren über steigende Belastung, und gleichzeitig wächst in der Gesellschaft die Frage: Wie sinnvoll ist es, Menschen mit geringen oder mittleren Strafmaßen jahrelang hinter Gittern zu halten, wenn es Alternativen gibt?

Eine dieser Alternativen ist die elektronische Fußfessel – offiziell „elektronisch überwachter Hausarrest“ (eüH). Sie existiert in Österreich seit 2010, wird jedoch bis heute kritisch beäugt. Für die einen ist sie ein Meilenstein in Richtung moderner, humanerer Strafvollzug, für die anderen ein riskanter Kompromiss zwischen Freiheit und Kontrolle.

Mit dem Beschluss einer Reform, die ab 1. September 2025 in Kraft tritt , steht Österreich an einem Wendepunkt: Erstmals wird die mögliche Dauer des elektronisch überwachten Hausarrests verdoppelt – von bislang 12 auf 24 Monate. Das ist nicht nur eine technische oder rechtliche Anpassung, sondern ein fundamentaler Einschnitt in die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Strafe, Freiheit und Resozialisierung umgehen wollen.

Doch was bedeutet das konkret? Welche Chancen bringt die Fußfessel für Staat, Gesellschaft und Betroffene? Und wo lauern die Risiken – für Opfer, für Nachbarn, für die Idee von Gerechtigkeit? Dieser Artikel soll nicht nur informieren, sondern auch zum Nachdenken und Diskutieren anregen.


1. Historischer Kontext: Vom klassischen Strafvollzug zur elektronischen Überwachung

Die elektronische Fußfessel ist ein relativ junges Instrument in Österreich. Sie wurde 2010 eingeführt, im Zuge einer breiteren Diskussion über Überfüllung der Gefängnisse und die Notwendigkeit, alternative Vollzugsformen zu etablieren.

Das Konzept ist international nicht neu: Bereits in den 1980er-Jahren wurden in den USA erste Experimente mit elektronischer Überwachung durchgeführt. In Europa folgten Länder wie Schweden, Frankreich oder Großbritannien. Ziel war stets eine Balance: den Freiheitsentzug aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig soziale Bindungen, Beschäftigung und Integration nicht zu zerstören.

Österreich griff die Idee auf – vor allem auch, weil die Justizanstalten an ihre Grenzen stießen. Schon damals war klar: Gefängnisse sind teuer. Ein Haftplatz kostet den Staat etwa 130 Euro pro Tag. Eine Fußfessel hingegen kommt auf rund 22 Euro pro Tag. Rechnet man das hoch, entstehen erhebliche Einsparungen, die gerade in Zeiten knapper Budgets attraktiv erscheinen.

Doch von Anfang an war klar: Es darf nicht nur eine Sparmaßnahme sein. Die Fußfessel musste so gestaltet werden, dass sie tatsächlich Resozialisierung fördert und nicht bloß eine „billige Haft light“ darstellt. Deshalb legte der Gesetzgeber strenge Bedingungen fest, die bis heute gelten.


2. Rechtlicher Rahmen: Wer darf die Fußfessel tragen?

Der elektronisch überwachte Hausarrest ist in Österreich im Strafvollzugsgesetz (StVG) geregelt. Die wesentlichen Bedingungen lauten:

  • Reststrafe : Bisher durften nur Personen teilnehmen, deren Reststrafe maximal 12 Monate beträgt. Mit der Reform 2025 steigt das Limit auf 24 Monate.
  • Straftaten : Schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten sind ausgeschlossen.
  • Wohnsituation : Es muss eine geeignete Unterkunft vorhanden sein, alle Mitbewohner müssen schriftlich zustimmen.
  • Beschäftigung : Die betroffene Person muss einer Arbeit, Ausbildung oder gemeinnützigen Tätigkeit nachgehen oder zumindest nachweislich suchen.
  • Versicherung : Kranken- und Unfallversicherung müssen bestehen.
  • Zustimmung : Die Person muss freiwillig zustimmen, die Regeln einzuhalten.
  • Überwachung : Rund-um-die-Uhr-Kontrolle durch ein elektronisches Gerät am Fuß, das mit der Zentrale des Vereins NEUSTART verbunden ist, der den Vollzug im Auftrag des Justizministeriums betreut.

Diese Bedingungen sorgen dafür, dass die Fußfessel nicht willkürlich eingesetzt wird. Sie ist kein „Recht“, sondern eine Bewilligung , die vom Gericht und vom Justizministerium geprüft wird. Wer sich nicht an die Regeln hält, kommt zurück ins Gefängnis.


3. Datenlage: Wie viele Menschen tragen die Fußfessel?

Die Zahl der Teilnehmer ist seit 2010 stetig gewachsen. Laut Justizministerium und Medienberichten sieht die Entwicklung so aus:

  • 2011 : rund 530 Personen
  • 2019 : etwa 1.100 Personen
  • 2022 : rund 1.207 Personen
  • 2024 : ca. 379 Personen im elektronisch überwachten Hausarrest, bei insgesamt ca. 7.343 Haftplätzen in Österreich

Das klingt im ersten Moment wenig – weniger als 10 % aller Inhaftierten. Doch die Bedeutung wird klar, wenn man die Hafttage betrachtet: Schon 2019 konnten durch die Fußfessel rund 127.000 Hafttage eingespart werden. Bei 130 Euro pro Tag entspricht das 16,5 Millionen Euro weniger Kosten für den Staat.

Die Zahlen zeigen: Die Fußfessel ist kein Randphänomen, sondern längst ein fest etabliertes Element des Strafvollzugs.


4. Die Reform ab 2025: Was ändert sich?

Ab 1. September 2025 tritt eine Reform in Kraft, die das System massiv erweitert. Die wichtigsten Änderungen:

  1. Verdopplung der Reststrafe : Statt 12 sind nun bis zu 24 Monate Reststrafe möglich.
  2. Frühzeitige Anträge : Der Antrag kann bereits vor Haftantritt gestellt werden. Wer die Kriterien erfüllt, muss möglicherweise gar nicht mehr ins Gefängnis einrücken.
  3. Flexiblere Begleitmaßnahmen : Bei Wohlverhalten können Lockerungen wie Sport oder soziale Kontakte leichter genehmigt werden.
  4. Integration in Entlassungsvollzug : Die Fußfessel wird stärker als Instrument verstanden, um die Entlassung vorzubereiten und Rückfälle zu verhindern.

Laut Justizministerium soll die Reform zwei Ziele erreichen:

  • Entlastung der Gefängnisse
  • Förderung der Resozialisierung

Gleichzeitig wird betont, dass es keine Abstriche bei der Sicherheit geben dürfe. Opferrechte sollen gewahrt bleiben, und es bleibt bei den Ausschlüssen für bestimmte Delikte.


5. Chancen: Was spricht für die Fußfessel?

5.1 Resozialisierung

Wer im sozialen Umfeld bleibt, behält Strukturen: Familie, Arbeit, Freunde. Studien zeigen, dass das Rückfallrisiko deutlich sinkt, wenn Menschen nicht komplett aus ihrem Umfeld herausgerissen werden.

5.2 Kostenersparnis

Wie erwähnt: 22 Euro pro Tag statt 130. Auf zwei Jahre gerechnet ergibt das pro Person eine Ersparnis im fünfstelligen Bereich. In Zeiten knapper Budgets ist das ein starker Faktor.

5.3 Entlastung der Gefängnisse

Die Überbelegung ist ein Dauerproblem. Jeder, der mit Fußfessel statt hinter Gittern sitzt, schafft Platz – und reduziert den Druck auf Justizwachebeamte, die ohnehin oft überlastet sind.

5.4 Humanität

Freiheitsentzug bleibt bestehen – die Person ist an ihre Wohnung gebunden. Gleichzeitig werden Grundrechte wie Arbeit, Bildung oder familiäre Bindungen nicht völlig zerstört.


6. Risiken: Was spricht gegen die Fußfessel?

6.1 Zweiklassensystem

Die Bedingungen begünstigen Menschen mit Wohnung, Job, stabilen sozialen Strukturen. Wer arm, wohnungslos oder arbeitslos ist, hat kaum Chancen. Damit entsteht eine soziale Schieflage : Wohlhabendere Straftäter profitieren eher.

6.2 Kontrolle vs. Freiheit

Die Fußfessel ist kein „Freifahrtschein“. Sie bedeutet permanente Überwachung. Psychologisch kann das belastend sein. Kritiker sprechen von einer „Gefängniszelle ohne Mauern“.

6.3 Missbrauchsgefahr

Es besteht die Gefahr, dass die Fußfessel als politisches Instrument missbraucht wird – prominente Fälle wie der von Karl-Heinz Grasser zeigen, dass das Thema medial schnell emotional aufgeladen ist.

6.4 Opferperspektive

Für Opfer von Gewalt- oder Betrugsdelikten kann es schwer erträglich sein, wenn der Täter zwar verurteilt wurde, aber praktisch im Alltag weiter präsent bleibt – auch wenn Einschränkungen bestehen.


7. Gesellschaftspolitische Dimension

Die Fußfessel ist mehr als nur ein technisches Gerät. Sie berührt Grundfragen:

  • Was ist Strafe? Geht es um Vergeltung, um Resozialisierung oder um Abschreckung?
  • Was ist Gerechtigkeit? Ist es fair, wenn nur bestimmte soziale Gruppen Zugang zu alternativen Vollzugsformen haben?
  • Wie viel Überwachung ist legitim? Technik ersetzt Mauern – aber ist eine Gesellschaft bereit, diese Art der Kontrolle dauerhaft zu akzeptieren?

In Österreich ist das Thema politisch umkämpft. Befürworter betonen die Humanität und Effizienz. Kritiker warnen vor einer Entwertung des Strafvollzugs und davor, dass Strafe ihre abschreckende Wirkung verliert.


8. Internationaler Vergleich (kurz)

  • Deutschland : Fußfessel seit 2011 möglich, vor allem bei Gefährdern.
  • Frankreich : Stark verbreitet, aber auch kritisiert wegen psychischer Belastungen.
  • Skandinavien : Länger erprobt, stärker auf Resozialisierung ausgerichtet.

Österreich liegt im Mittelfeld: nicht Vorreiter, aber auch nicht Nachzügler. Die Reform 2025 bringt das Land allerdings in eine neue Liga – die Verdopplung der möglichen Dauer ist europaweit eher selten.


9. Fazit und Diskussionsfragen

Die Fußfessel ist kein Allheilmittel. Sie ist ein Werkzeug – und wie jedes Werkzeug kann sie sinnvoll oder problematisch eingesetzt werden.

Unstrittig ist: Sie spart Kosten, entlastet Gefängnisse und erleichtert Resozialisierung. Ebenso unstrittig ist: Sie begünstigt sozial Bessergestellte und wirft Fragen nach Gerechtigkeit und Opferrechten auf.

Die Reform 2025 wird zeigen, ob Österreich bereit ist, Strafvollzug grundlegend neu zu denken – oder ob die Fußfessel nur eine Übergangslösung bleibt, die alte Probleme in neuer Form fortsetzt.


Diskussionsfragen an die Öffentlichkeit

  • Soll soziale Ungleichheit das Kriterium für eine zweite Chance sein?
  • Reicht technische Überwachung, um Gerechtigkeit herzustellen?
  • Wie viel Strafe braucht eine Gesellschaft – und wie viel Resozialisierung ist sie bereit zuzulassen?
  • Ist die Fußfessel ein Fortschritt oder nur eine Verschiebung des Problems?
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