Schicksal Gutachten
Schicksal Gutachten
Wie Österreichs Maßnahmenhäftlinge in einem System der Willkür feststecken
(a video explanation of this topic can be found on our website here Downloads )
Inmates Shelter beleuchtet, warum die Freiheit tausender Gefangener oft nicht von ihrer Resozialisierung, sondern vom guten Willen Einzelner abhängt.
Seit Jahren begleiten wir Insassen in Österreichs Justizanstalten, die eines gemeinsam haben: Sie sind nach § 21 StGB – der sogenannten "Maßnahme" – in Sicherungsverwahrung. Ihr zentrales Anliegen ist immer dasselbe: "Wann komme ich endlich raus? Was muss ich noch tun?" Doch die Antwort, die sie erhalten, ist oft keine, die auf ihrer persönlichen Entwicklung basiert. Sie ist ein Echo aus Akten, ein Wiederhall veralteter Gutachten und ein Geflecht aus subjektiven Einschätzungen.
n diesem Artikel machen wir als NGO auf ein Systemversagen aufmerksam, das die Resozialisierung behindert und Grundrechte beschneidet. Ein System, in dem Gutachter und Anstaltspsychologen über Schicksale entscheiden – oft ohne ausreichende Kontrolle, Transparenz und Objektivität.
§ 21 StGB: Die Theorie der Besserung und Sicherung
Rechtlich verfolgt die Maßnahme (§ 21 StGB) einen doppelten Zweck: den Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Rückfalltätern und die Resozialisierung des Täters. Voraussetzung für die Entlassung ist eine "positive soziale Prognose". Der Gefangene muss also überzeugend darlegen können, dass von ihm keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit ausgeht.
In der Theorie klingt das vernünftig. In der Praxis jedoch wird dieses zentrale Kriterium zu einem undurchsichtigen und oft unerreichbaren Ziel. Denn die Bewertung dieser Prognose liegt in den Händen weniger Personen: psychiatrischer Gutachter und der Psychologen innerhalb der Anstalt.
Die Praxis: Aktenwälzen statt Menschenbegutachtung
Wir beobachten immer wieder ein grundlegendes Problem: Viele Gutachten, die für Anhörungen zur Entlassung oder Aufhebung der Maßnahme erstellt werden, sind keine Neubegutachtungen. Stattdessen werden Texte aus alten Grundgutachten oft 1:1 übernommen, ohne dass der Insasse tatsächlich neu und umfassend begutachtet wird. Fast so, als wäre Copy & Paste gerade erst erfunden worden und man möchte sich damit jetzt ein wenig „spielen“. Doch hier spielt man mit den Leben von Menschen!
Noch gravierender: Uns sind Fälle bekannt, in denen Gutachter ein neues Gutachten ausschließlich auf Basis der Aktenlage erstellen – ohne den Insassen überhaupt persönlich zu sehen oder zu sprechen. Eine reine Aktenlage kann jedoch keine aktuelle Einschätzung der Persönlichkeitsentwicklung liefern. Wie soll so eine "positive soziale Prognose" jemals festgestellt werden können, wenn die Person hinter den Akten nicht mehr gesehen wird?
Diese Praxis ist nicht nur fachlich fragwürdig, sie ist auch menschenrechtlich bedenklich. Sie reduziert einen Menschen auf seine Vergangenheit und verwehrt ihm die Chance, seine Gegenwart zu beweisen.
Das zweite Problem: Taube Ohren bei den Entscheidungsträgern
Doch selbst wenn ein Gutachten positive Aspekte enthält und Empfehlungen für Lockerungen oder eine schrittweise Entlassung ausspricht, heißt das noch lange nicht, dass diese auch umgesetzt werden. Es ist an der Tagesordnung, dass die darin enthaltenen, für den Insassen sprechenden Passagen einfach ignoriert werden.
Gutachter empfehlen bestimmte Freiheitsmaßnahmen oder Vollzugslockerungen als notwendige Schritte in der Resozialisierung – doch die zuständigen Richter und die Anstaltsleitung setzen diese Empfehlungen häufig nicht um. Dies führt zu einer demotivierenden und ausweglosen Situation für den Gefangenen: Selbst wenn er das tut, was von ihm verlangt wird und ein positives Gutachten erhält, ändert sich nichts an seiner Situation. Dies untergräbt nicht nur das Vertrauen in das System, sondern zerstört auch jede Motivation für weitere Resozialisierungsschritte.
Das dritte Problem: Die Allmacht der Anstaltspsychologen (und Anstalten)
Den Anstaltspsychologen und Justizanstalten (denn die sogenannten „forensisch therapeutischen Zentren“ sind nur Abteilungen in Gefängnissen) kommt in diesem System eine immense, vielleicht sogar zu große Bedeutung zu. In vielen Fällen übernehmen externe Gutachter schlichtweg die Einschätzungen der Psychologen, die den Insassen über Jahre begleitet haben, ohne eine eigene, unabhängige Begutachtung vorzunehmen.
Auf den ersten Blick erscheint das nachvollziehbar: Wer kennt den Insassen besser als der betreuende Psychologe? Das Problem dabei ist die fehlende Objektivität und die Abhängigkeit, die dadurch entsteht. Wenn ein Insasse – aus welchen Gründen auch immer – ein problematisches Verhältnis zu seinem Psychologen oder der Anstalt hat, kann dies existenzielle Konsequenzen haben. Eine negative Einschätzung, die auf zwischenmenschlichen Spannungen beruht, kann in den Akten landen und von Gutachtern unhinterfragt übernommen werden. Für den Betroffenen bedeutet das im schlimmsten Fall, dass er viele weitere Jahre in Haft verbringen muss, nicht weil er gefährlich ist, sondern weil er mit einer einzelnen Person nicht zurechtkommt.
Ein konkretes Beispiel: Die Fehlbegutachtung von Jugendlichen
Uns sind Fälle bekannt, in denen die in Österreich sehr bekannte Gutachterin Dr. Adelheid Kastner Jugendliche begutachtet hat, obwohl sie – zumindest zu diesem Zeitpunkt - nicht über die spezifische Fachausbildung als Jugendpsychiaterin verfügt. Dies wirft eine grundlegende Frage auf: Wo sind die Grenzen der Expertise? Wie kann sichergestellt werden, dass Gutachter nur in den Bereichen begutachten, für die sie auch tatsächlich qualifiziert sind?
Solche Vorkommnisse untergraben die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems und zeigen einen eklatanten Mangel an qualitativer Kontrolle auf.
Unsere Forderungen: Für ein faires, transparentes und objektives System
Angesichts dieser Missstände fordern wir grundlegende Reformen:
1. Verpflichtende Neubegutachtung : Für jede Anhörung zur Entlassung oder Aufhebung der Maßnahme muss eine persönliche und umfassende Neubegutachtung des Insassen durch einen unabhängigen Sachverständigen gesetzlich verpflichtend sein. Aktenlagen allein dürfen nicht ausreichen.
2. Eine unabhängige Obergutachter-Stelle : Wir fordern die Einrichtung einer tatsächlich unabhängigen Stelle, einer Art "Obergutachter" oder Beschwerdekommission. An diese müssen sich Insassen wenden können, wenn sie Fehler oder Ungereimtheiten in ihren Gutachten vermuten – und zwar ohne teure Rechtsanwälte beauftragen zu müssen. Diese Stelle muss die Möglichkeit haben, Gutachten und die Qualifikation der Gutachter zu überprüfen, um Fehlurteile zu verhindern.
3. Standardisierte Kriterienkataloge : Die vage Formulierung der "positiven sozialen Prognose" muss durch einen transparenten, standardisierten Katalog von Beurteilungskriterien konkretisiert werden. Die Gefangenen müssen genau wissen, welche Entwicklungsschritte von ihnen erwartet werden, und die Gutachter müssen ihre Entscheidungen an diesen objektiven Kriterien messen lassen.
4. Transparenz und Begründungspflicht : Wenn Gerichte oder Anstalten von den Empfehlungen eines Gutachtens abweichen, muss dies schriftlich und nachvollziehbar begründet werden müssen. Die Willkür bei der Umsetzung von Gutachtenempfehlungen muss ein Ende haben. Die Begründung „Er ist noch nicht so weit“ reicht definitiv NICHT aus.
5. Qualifikationskontrolle : Es muss sichergestellt werden, dass Gutachter nur in ihren spezifischen und nachgewiesenen Fachgebieten begutachten dürfen. Die Begutachtung von Jugendlichen gehört in die Hände von spezialisierten Jugendpsychiatern.
Fazit: Es geht um Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit
Es geht uns nicht darum, die Schuld an Einzelpersonen wie Gutachtern oder Psychologen zuzuweisen. Es geht uns um das System, das diese Fehlanreize und Machtungleichgewichte zulässt und verstärkt.
Das derzeitige System produziert Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und untergräbt den Resozialisierungsgedanken. Es ist ineffizient, teuer und vor allem: es ist unmenschlich.
Wir appellieren an die Justiz, die Politik und die Öffentlichkeit: Lassen Sie uns gemeinsam für ein System kämpfen, das seinen Namen verdient. Ein System, das auf Rehabilitation setzt, auf faire Verfahren und auf die Würde jedes Einzelnen – auch hinter Gittern.
Die Freiheit eines Menschen darf nicht vom guten Willen Einzelner oder von systemischen Mängeln abhängen.
Gemeinsam für eine gerechtere Justiz.










